■ Ein klarer Fall für die Meteorologie
: Obdachlosigkeit als Klimakatastrophe

Auch harte Winter können ihre milden Seiten haben: da werden Autos in beheizte Garagen gefahren, mit Anti-Frost-Creme einbalsamiert, mit Plastikhauben vor Schnee und Eis geschützt. Da werden Hündchen auf dem Arm durch die Kälte getragen, bekommen Jäckchen und Mäntelchen gehäkelt und werden unter Pelzdecken in Körbchen gesteckt. Menschen sind da irgendwie unhandlich: sie übernachten unter freiem Himmel, frösteln sich todkrank bei diesen Minustemperaturen, und wenn die ersten erfroren sind, dann schrecken wir auf: da war doch was. Das geht alle Jahre so. Wenn wir Glück haben, läßt ein milder Winter das Problem schnell aus unserem Gesichtsfeld schmelzen. Alles nur eine Frage der Meteorologie.

Mehr als eine Million Menschen in Deutschland haben kein Dach über dem Kopf. Und das nicht nur im Winter. Millionen andere säßen längst auf der Straße, wenn die Sozialämter nicht immer häufiger horrende Mietschulden übernähmen. Doch obwohl das Problem im makabersten Sinne des Wortes auf der Straße liegt, wird es behandelt wie eine besondere Spielart der Klimakatastrophe. Da können die ersten Menschen bereits erfrieren, aber städtische Behörden schützen weiterhin ihren kommunalen Wohnungsbestand, Nahverkehrsunternehmen schützen die Sicherheit der U-Bahn-Schächte, und Pastoren schützen die ästhetische Unversehrtheit ihrer Gotteshäuser.

Sicher, sie wecken Mitleid, diese armseligen, fröstelnden Gestalten – wenn es kalt wird. Sonst wecken sie eher Aggressionen. Sie stören Sauberkeit und Ordnung und rühren an der verdrängten Ahnung, daß man selber ganz schnell dazugehören könnte, zu diesen schmuddeligen Störenfrieden in unserer derzeit arg lädierten Glitzerwelt. Diese Ahnung möchte man lieber nicht zu Ende denken, schon gar nicht, wenn sie mit jeder Betriebsschließung und jeder Mieterhöhung dichter auf die Pelle rückt. Da wetzt man lieber die Ellbogen und ist dankbar für jeden „Sozialschmarotzer“ und „Drückeberger“, den die Politik erfindet.

Ein merkwürdiger Akt der Verdrängung vollzieht sich da. Seit Jahren schon sind die Probleme auf dem Wohnungsmarkt unübersehbar. Da wird heftig über Lohnverzicht debattiert, über jede Zulage gestritten, aber daß jeder dritte Tag allein für den Hausbesitzer gearbeitet wird, ist kein Thema der Politik. Den Namen der Wohnungsbauministerin kennt man kaum. Konzepte, Lösungsvorschläge hat man von ihr nie gehört, und offenbar verlangt sie auch keiner. Nach den Hausbesetzungen der siebziger und achtziger Jahre ist Wohnungsnot wieder zur reinen Privatsache geworden. Kein Fall für die Haushaltsdebatte, keiner für die Duellanten Scharping und Kohl: Standort Deutschland heißt das Wahlkampfthema, Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie. Und hat man jemals von einem obdachlosen Computer oder einer erfrorenen Fertigungsanlage gehört? Vera Gaserow