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CDU will sich erst im Oktober 1994 abwählen lassen

■ Siebzig Prozent des Wahlvolks in Sachsen-Anhalt wollen das schneller erledigt sehen / FDP schwankt vorsichtig zur CDU zurück

Magdeburg (taz) – Nach dem gestrigen Rücktritt der Landesregierung von Sachsen-Anhalt unter Ministerpräsident Werner Münch bemüht sich inbesonders die CDU um eine schnelle Bereinigung der Regierungskrise und sucht nach Möglichkeiten, den von der SPD geforderten Neuwahlen zu entgehen. Noch am Sonntag abend hatte der CDU-Landesvorstand den bisherigen Chef der CDU- Landtagsfraktion, Christoph Bergner, zum Kandidaten für die Münch-Nachfolge nominiert.

Bergner und sein von jeglichem Unrechtsbewußtsein freier Vorgänger traten gestern beim CDU-Bundesvorstand in Bonn zum Rapport an. Dort mußte sich Münch noch einmal heftige Kritik für sein Verhalten in der Gehälteraffaire anhören. Auch Bergner selbst kritisierte Münch und forderte ihn auf, förmlich die politische Verantwortung für die Affaire zu übernehmen. Eine Forderung nicht ohne Hintergrund. Denn schon kurz nach seiner Nominierung durch den Landesvorstand der Union und der Bestätigung durch die Landtagsfraktion hatte Bergner nicht ausschließen wollen, auch einen Teil der durch die Gehälteraffaire belasteten Minister wieder in sein Kabinett zu berufen. Man müsse genau abwägen, was sie im einzelnen getan haben und welche Fachkompetenz der Regierung verlorengehe, wenn man auf diese Minister verzichte.

Ein Vorschlag, der insbesondere beim liberalen Koalitionspartner auf heftigen Widerstand stößt. Dort ist die Fortsetzung der christlich-liberalen Koalition von Sachsen-Anhalt an sich nur eine von mehreren möglichen Optionen. Gleichwohl hat sich die FDP nach einigem Hin und Her zunächst darauf festgelegt, daß die Koalition mit der CDU fortgesetzt und Neuwahlen vermieden werden sollen.

Der FDP-Landesvorstand will sich heute abend mit der aktuellen Situation beschäftigen und die Marschrichtung endgültig festlegen. Nach parteiinternen Einschätzungen ist in der Fraktion eine Mehrheit für die Fortsetzung der Koalition mit der CDU, im Landesvorstand gibt es dagegen offenbar eine leichte Mehrheit für Neuwahlen.

Der designatus für den Chefsessel in der Staatskanzlei lehnte Neuwahlen dagegen als „die denkbar schlechteste Lösung“ der Regierungskrise ab. Das Land habe noch ein funktionsfähiges Parlament, das den Wählerwillen repräsentiere, sagte Bergner gestern in Bonn.

Die Wähler in Sachsen-Anhalt sehen die Angelegenheit inzwischen aber offenbar etwas anders. In einer Blitzumfrage des Wickert-Institutes plädierten 69,7 Prozent der Wahlberechtigten in Sachsen-Anhalt für eine Lösung der Krise durch einen sauberen politischen Schnitt und möglichst schnelle Neuwahlen. Lediglich 20 Prozent der Befragten sprachen sich für die Fortsetzung der bisherigen christlich- liberalen Koalition unter einem Regierungschef Bergner aus.

Dieser holte sich gestern in Bonn Rückendeckung für seinen Kurs, die Koalition fortzusetzen. Er will sich heute mit einem entsprechenden Verhandlungsangebot an den FDP-Fraktionsvorsitzenden Hans- Herbert Haase wenden, sagte Bergner. Die FDP scheint aber nicht zu Verhandlungen über eine Fortsetzung der Koalition bereit zu sein, bevor nicht der Landesvorstand der Partei heute abend die liberale Verhandlungslinie ausgetüftelt hat. In einem förmlichen Protestschreiben an den noch bis zum CDU-Landesparteitag am kommenden Samstag amtierenden Unionschef Werner Münch beklagten die Liberalen, daß die CDU nach dem Rücktritt der Regierung bis zum Montag mittag noch immer keinen offiziellen Kontakt zum Koalitionspartner gesucht habe. Münch, so ein Sprecher des FDP-Landesvorstandes, sei aufgefordert worden, einen Termin und einen neutralen Ort für Verhandlungen mit dem Koalitionspartner vorzuschlagen. Allerdings sei Kunert erst nach der FDP-Vorstandssitzung zu entsprechenden Verhandlungen bereit.

Unterdessen hat der mit Münch zurückgetretene Innenminister Hartmut Perschau (CDU) angekündigt, die nach Ansicht des Landesrechnungshofes an ihn zuviel ausgezahlten 165.000 Mark bis zur endgültigen Klärung der Vorwürfe auf ein Treuhandkonto einzuzahlen. Perschau bekräftigte noch einmal, keine Informations- und Gruppenmittel seiner Fraktion im Europäischen Parlament als eigenes Einkommen angegeben zu haben. Finanzminister Wolfgang Böhmer bestätigte, daß die Bezügestelle entsprechende Angaben von Ministerpräsident Münch in die Perschau- Akte übertragen habe.

Die Staatsanwaltschaft in Magdeburg hat unterdessen ein Vorermittlungsverfahren gegen die in der Gehälteraffaire beschuldigten Politiker eingeleitet. Es handele sich zunächst um einen reinen Beobachtungsvorgang unter dem Gesichtspunkt des Betrugsverdachtes, sagte der Leiter der Magdeburger Staatsanwaltschaft, Rudolf Jaspers, gegenüber der taz. Die Staatsanwaltschaft habe den Landesrechnungshof gebeten, ihr seine Gutachten zu den Ministergehältern zur Verfügung zu stellen. Der Landesrechnungshof prüfe derzeit noch, ob die Herausgabe der Unterlagen an die Ermittlungsbehörden zulässig sei, sagte Jaspers. Neben diesen Vorermittlungen von Amts wegen müßten die Ermittler noch einer Strafanzeige gegen die Minister nachgehen, die ein Bürger aus Schleswig-Holstein gestellt habe. Allerdings gebe es auch in diesem Fall noch keine Beweismittel, die einen Anfangsverdacht rechtfertigen. Der Antragsteller, so Jaspers, habe seiner Anzeige lediglich den Spiegel der vergangenen Woche beigefügt. Eberhard Löblich

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