: Ein merkwürdiger Erdflecken
Let's go Kiwi: Neuseeland, das Reiseziel am anderen Ende der Welt, lockt immer mehr deutsche Besucher an. Einige hundert erliegen jedes Jahr seinem spröden Charme und lassen sich in diesem Garten Eden häuslich nieder ■ Von Bernd Müllender
Kann der Deutsche ein Land mögen, wo der Kaffee dünner ist als Tee? Wo Bier mehrheitlich aus Dosen gekippt und in den Kneipen möglichst schaumfrei kredenzt wird? Wo man Wein am liebsten aus Pappschachteln trinkt und diesen Kulturfrevel chateau cardboard nennt? Wo ein Restaurantessen nicht selten als Mordversuch am Gaumen gewertet werden muß. Wo es – außer im Großraum Auckland – noch nicht einmal richtige Autobahnen gibt. Wo ein Fernsehprogramm läuft, gegen das RTL und Sat.1 Intellektuellensender sind...
Doch die Deutschen fahren ab auf Neuseeland. Jedes Jahr kommen 25 bis 30 Prozent mehr deutsche Urlauber ans entfernteste Reiseziel, das derzeit zu buchen ist. Seit 1990 hat sich die Besucherzahl mehr als verdoppelt, für diesen Winter werden an die 65.000 germans erwartet. Und ein Ende des invasionären Trends ist nicht abzusehen.
Quetschen sich die deutschen Besucher 30 bis 36 Stunden pro Strecke auf einem Viertelquadratmeter Flugzeugsitz, nur weil sie Einheimische so nett finden? Kaum vorstellbar, denn die NeuseeländerInnen stehen im Ruf, bisweilen spießiger und langweiliger zu sein als die biedersten Briten. Oder zieht es die Urlauber zu den Maoris? Zu denen ist, von folkloristischen Showveranstaltungen abgesehen, der Kontakt durchweg gering; zudem wird man ausgerechnet von Besuchern der Rassistenrepublik Deutschland nicht unbedingt über das bildungsbürgerliche Muß hinaus ein besonders flammendes Interesse an fremden Kulturen erwarten. Das Wetter etwa? Da gibt es unzählige bessere Ziele, denn das Wetter bei den Kiwis ist allemal unberechenbar. Die Maoris nannten das heutige Neuseeland Aotearoa – „Land der großen weißen Wolke“, und das bedeutet auch am anderen Weltenende: mit Regen muß täglich gerechnet werden.
Was ist los bei den Kiwis – Action, Kneipen, Discos, Kulturspektakel? Ganz im Gegenteil: Von den gerade mal drei Städten mit über einer viertel Million Einwohner (Auckland, Wellington, Christchurch) abgesehen, ist fast überall gnadenlos tote Hose. Vor allem auf dem Land. Und davon gibt es überreichlich. Unter Jugendlichen und Heranwachsenden macht sich längst Frust breit, und nicht wenige flüchten in die Metropolen Australiens, wo es mehr und besser bezahlte Jobs gibt und größeren kulturellen Anschluß an die westliche Welt. Und Badeurlaub? Da ist schon das Ozonloch vor: Im Land, wo laut Klischee Milch und Honig ohne Ende fließen, suchen sich die Hautkrebszellen weltweit die meisten Opfer.
Nein! Neuseeland ist einfach wunderschön, das ganze Land ein einziges Naturerlebnis. Die Neuseelandschaft fasziniert immer wieder neu. Dennoch, viele Landschaften findet man, beim ähnlich gemäßigten Klima nicht überraschend, auch in Europa: Gletscher und Fjorde wie in Norwegen; Geysire und blubbernde Erde wie in Island; Seen, Almen und ewiger Schnee wie in der Schweiz (selbst der größte Bergzug heißt „New Zealand Alps“, also Alpen); karge Landstriche, die an Griechenland erinnern; Strandlandschaften, ähnlich denen auf Fuerteventura; französisch gestylte Auswanderer-Enklaven und Weideland wie in Irland oder Bayern. Europa im Westentaschenformat – und doch ganz anders. NZ ist so groß wie die alte BRD, hat aber nur gut drei Millionen Einwohner.
Keine Besuchergruppe, belegt die Statistik, gibt pro Reise so viel Geld aus wie die Deutschen. Am liebsten buchen sie pauschal oder „individuell“ mit vorbestelltem Campmobil, in dem man so schön autonom ist. Und dann beginnt das Zweikommafünfwochenritual: von Nationalpark zu Nationalpark, von einem Naturschauspiel zum nächsten; noch eine und noch eine spektakuläre Aussicht, an der man gerade so lange aussteigt, daß der Motor nicht extra ausgestellt werden muß und der Camcorder einen Panoramaschwenk schafft. Dazwischen mal ein scenic flight, eine kleine Bootsfahrt, eine Halbtageswanderung (bush walk), für Mutige ein Bungee-Sprung. Alles in allem ähnelt das Ritual dem „see Europe in a week“, nur daß man dafür 20.000 Kilometer weit geflogen ist, um alles kompakter beisammen zu haben.
„If you don't mind travelling with a funeral director and his client...“ Das hörte Ernst-Bernhard Wipperfürth (43) aus Aachen, als er vor einigen Jahren mit Fahrradpanne „irgendwo im neuseeländischen Nirgendwo“ hilfesuchend am Straßenrand stand. „Ich wollte meinen Augen nicht trauen: Ein Leichenwagen wollte mich mitnehmen zur nächsten Stadt.“ Das Rad wurde mit Hilfe des Beerdigungsdirektors vorsichtig neben den nur mit einem Tuch bedeckten Klienten gelegt, und los ging's. Indes bat der freundliche Totenchauffeur seinen Gast, am Stadtrand auszusteigen und die restlichen Meter zu schieben, es könne schließlich etwas pietätlos erscheinen, direkt auf der Hauptverkehrsstraße einen vom Regen durchnäßten Tramper und ein verdrecktes Rad hervorzuziehen, bevor die sterblichen Überreste dem Friedhof überantwortet worden wären.
Für Wipperfürth ist das „die typische Neuseeland-Geschichte überhaupt“. Die Leute allzeit hilfsbereit, offen, freundlich und immer überaus interessiert (ohne die Oberflächlichkeit wie in den USA). Pragmatismus geht vor falscher Scham, garniert mit einer Spur schwarzem Humor. Unaufgeregt, gemächlich und gemütlich geht es zu. Manchmal sind sich die Kiwis, wie der Buchbestseller „The passionless people“ belegt, selbst schon zu leidenschaftslos – außer wenn es um Cricket oder Rugby geht, vor allem gegen die Aussies nebenan. Die wiederum spotten, das weitverbreitete Farmersleben der Nachbarn vor Augen: In Neuseeland gibt es 63 Millionen Schafe, und drei Millionen davon meinen, sie wären keine. „Die Menschen in Neuseeland“, sagt Wipperfürth, „scheinen nur auf den ersten Blick spießig, hinterwäldlerisch, vielleicht verklemmt oder ab von der Welt. Aber in zehn Jahren habe ich sie ganz anders kennengelernt...“
Mit längeren Urlauben hatte es bei ihm (damals Pharmazeut in Deutschland) angefangen, zu Beginn der achtziger Jahre. Dann organisierte er Fahrradtouren für deutsche Touristen, lebte – immer im Sommer – ein halbes Jahr dort, ein halbes Jahr hier. Seit einem Jahr ist er permanent resident und hat in Christchurch ein kleines Hotel gekauft.
Wie Wipperfürth sind auch andere dem spröden Charme des merkwürdigen Landes am anderen Ende der Welt erlegen und ausgewandert. So manche sind einfach mal gekommen, mit Rucksack für zwei, drei Monate und dann nur zurückgeflogen, um den Container reisefertig zu machen. So wie Thomas und Nügg Kulpe, vormals Hamburg, die heute im Dörflein Diamond Harbour leben auf der wunderschönen und wenig touristischen banks peninsula bei Christchurch. Sie, joblose Sozialpädagogin und Schauspielerin, arbeitete erst aushilfsweise im Krankenhaus. Heute ist sie fest angestellt und erstellt im Auftrag der Justizbehörden Sozialprognosen für Straffällige. Er, Softwarefachmann, war von vornherein ein gesuchter Spezialist. Heute haben sie, teils selbst gezimmert, ein Traumhaus mit Traumblick, das hierzulande sicher eine Million kosten würde, dort einen kleinen Bruchteil. „Nach Deutschland zurück?“ sagt Nügg, „einfach unvorstellbar, schrecklich.“
Andere deutsche Neu-Neuseeländer versuchen es mit Verkäufen selbstgefertigten Kunsthandwerks, sie spielen Theater, unterrichten an der Uni als Agrarwissenschaftler über organischen Landbau, oder sie ackern selbst als Biobauern. Manche finden irgendeine Marktlücke im Urlaubsbusiness oder gründen eine Holzkooperative (carewood) für die exklusiven und Sonderwünsche der kleinen neuseeländischen Oberschicht.
Eines ist typisch: Neuseeland- Auswanderer sind in der Regel keine spontan „ausgestiegenen“ Freaks, sondern Leute (oft AkademikerInnen) jenseits der 30, die eine Art zweites Leben anfangen, manchmal auf einen neuen Beruf umsteigen, eine Familie gründen (falls sie nicht schon typischerweise als Familie hierhergekommen sind), ein Haus bauen und sich auf Dauer downunder einrichten (bis hin zum Tausch der Nationalität). Das ganz normale bürgerliche Leben halt, nur eben ganz woanders. Und relaxter, streßfreier, unkomplizierter.
So manche waren gleich nach Tschernobyl geflüchtet aus dem immer engeren, immer deutscheren Deutschland. Mit Schaudern, aber auch mit hintergründiger Genugtuung vernehmen sie heute die schlimmsten Schreckensmeldungen aus Deutschland über Rechtsradikale, zunehmenden Lärm und Hektik, Verkehrschaos, verseuchte Nahrungsmittel. All das rechtfertigt immer aufs neue die eigene Flucht in ein Land, das offiziell nuklearfrei ist, wo es ein Abrüstungsministerium gibt und wo beispielsweise Greenpeace so populär ist, daß man der Organisation schon die Rolle als einer Art Nebenaußen- und Naturministerium zuschreiben kann.
Einige hundert Deutsche bleiben pro Jahr in diesem Garten Eden. Die Gegenden um Nelson auf der Südküste oder Coromandel-Halbinsel im Norden gelten heute schon als kleine deutsche Enklaven. Seit einigen Jahren ist die Zuwanderung einfacher geworden: In den achtziger Jahren bekamen (fast) ausschließlich gesuchte Fachkräfte (Computer, bestimmte Handwerke) eine Daueraufenthaltserlaubnis. Seit die konservative Regierung 1989 alle Märkte geöffnet hat, zählt „Unternehmer“ als gesuchter Beruf, und so reichen oft schon sehr gute Englischkenntnise, gute Argumente und hinreichend Cash. Nischen, auch nonkonformistische, gibt es immer wieder: Der alte Pioniergeist lebt immer noch – kein Wunder, schließlich haben nur gut drei Millionen ein so großes Land zu beleben. Und: Neuseeland ist tolerant und liberal; für Einheimische gibt es keinen Ausweiszwang und keine Meldepflicht, jeder kann sich nennen oder umtaufen, wie er will.
Doch allmählich beginnt das Land an den Fremden zu ersticken. Eine Million BesucherInnen pro Jahr, bis zum Jahr 2000 sollen es, so die Pläne von Tourismus- und Wirtschaftsministerium, volle drei Millionen sein. Ernst-Bernhard Fortsetzung nächste Seite
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Wipperfürth: „Dabei ist es jetzt schon grausam anzusehen, wie diese Massen an Besuchern über das kleine Land herfallen. Wie sie das Land besinnungslos konsumieren, ihren Dreck hinterlassen, wie sie kolonnenweise mit ihren Bussen die immergleichen Routen entlangbrausen und das Land nur noch als Kulisse wahrnehmen. Manchmal möchte man einen Einreisestopp erwirken.“ Das sagt einer, der als Hotelier (auch) vom Tourismus lebt und besonders seine Landsleute als manchmal nervig erlebt. „Mir sind sowieso australische Geschäftsleute oder Besucher aus England und Amerika lieber als diese oft nörgelnden besserwisserischen Deutschen, die zudem glauben, nur weil ich auch Deutscher bin, könnten sie mich gleich stundenlang als ihren Reiseleiter mißbrauchen.“
Manchmal kommen die deutschen Besucher mit absurd geringen Kenntnissen. Claudia und Dieter, Lehrerpaar aus dem Badischen, haben zwei ihrer drei Wochen deutscher Winterferien im Campmobil hinter sich, da passiert es: Unkonzentriert nach vielen tausend Kilometern, immer noch verwirrt vom Linksverkehr, crashen sie in einem abgelegenen Kaff in ein Gemüsegeschäft. Der Wagen muß mit dem Schneidbrenner aus der Metallmarkise herausgetrennt werden, die Einheimischen haben ihren Spaß: These germans... Ein Ersatz für das defekte Mobil ist wegen der Hochsaison vorerst nicht zu bekommen. Deshalb machen sie sich per Anhalter und Bus auf die letzten Tage und scheinen überhaupt erst anzufangen, etwas vom Land mitzubekommen: Ach, die vielen toten Tiere überall auf den Fernstraßen sind gar keine Wildkatzen, sondern die Landesplage schlechthin, die Opossums („Da hätten wir ja zu Hause fast etwas Falsches erzählt“). Ach, Pakehas ist das allgemein übliche Maori-Wort für Weiße, wir dachten schon, die Leute würden uns beschimpfen. Und sie versuchen, endgültige Klarheit über die vielen Kiwi-Sorten zu kriegen: kiwi ist der skurrile Wappenvogel der kiwis, und nur kiwi fruit, keineswegs kiwi heißen die Früchte, die wir zu Hause als Kiwis verspeisen...
Faszinosum Neuseeland: immer etwas liebenswert rückständig, sehr anders als das viel amerikanisiertere Australien nebenan. Das Land ist klein und überschaubar; das Informationssystem für Besucher bestens ausgebaut und die Infrastruktur (noch) ausreichend. Die Preise liegen, dank des andauernden Kursverlustes des Kiwi- Dollars und gleichzeitiger Preisstabilität, teilweise bis zu 50 Prozent unter deutschem Niveau.
Und ein bißchen ist Neuseeland tatsächlich noch heile Welt: In den Städtchen und Dörfern legen sie allabendlich ihre 2- oder 5-Dollar- Noten unter die leeren Pfandflaschen für den Milchmann vor der Haustür – nie würde jemand auf die Idee kommen, das Geld zu stehlen. Autos abschließen – das ist mit Ausnahme der Stadtzentren weitgehend unbekannt. Einem Wildfremden die eigene teure Golfausrüstung für ein paar Stunden leihen und vertrauensvoll nach Hause fahren – kein Problem. Und nicht zu vergessen das Flair, das allein von den Maori-Namen so vieler Orte ausgeht: Whangarei, Whakatane, Whitianga, Whakarewarewa, Waikaremoana ... Tongariro, Turanga, Taurangi, Takaka ... Kerikeri, Kaitaia, Hokitika...
Schließlich war Neuseeland, lange bevor im 18. und 19. Jahrhundert die mehrheitlich britischen Siedler und später deutsche Übersiedler kamen, allein Maori- Land. Ethnologisch zu den polynesischen Völkern gehörend, und geographisch zur Südsee, zu den schier unendlichen, geheimnisvoll wogenden Weiten des Pazifik.
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