piwik no script img

Serie: Die Krise der Universitäten (zweite Folge) / Niemand weiß, was wirklich hinter „Bummel“-Studis steckt – denn es gibt sie gar nicht / Gegen den Ministerpräsidentenbeschluß hilft nur eines: kollektive Arbeitsniederlegungen Von Peter Grottian

Mythos von den Langzeitstudenten

Politik ist Herrschaft – und Herrschaft über Menschen drückt sich oft so aus, daß ein Mythos geschaffen wird: Arbeitslose sind faul, schmarotzen, und es muß ihnen der Geldhahn zugedreht werden. Studenten bummeln, studieren nicht mit geschwinder Effizienz, jetzt sollen sie mit Studiengebühren abgemahnt und in höheren Semestern mit 1.200 Mark jährlich fürsorglich gefeuert werden. Ob bei Arbeitslosen oder Studierenden, es ist das gleiche Muster: Kopflose und unintelligente Politik machen die Schwächsten zu den Sündenböcken, und die Zuchtrute des Geldes soll dem staunenden Volk vormachen: Denen werden wir es schon geben!

Aber die schwäbische Schneidigkeit des Senators Ehrhardt offenbart eher Hilflosigkeit als ein angemessenes Konzept, mit Langzeitstudis besser umzugehen.

An sich läßt sich leicht eine gemeinsame Diagnose stellen: 25 bis 30 Prozent der Langzeitstudierenden über dem 14. Semester sind zuviel – aus welchen Gründen auch immer. Alles spricht dafür, daß sich hier verschiedene negative Entwicklungen auftürmen: Überfrachtete Studienordnungen, Stellenkürzungen, überlastete und kaum examensmotivierende Professoren, oft nicht sehr selbstorganisationsfähige Studierende, die ein Leben zwischen Liebe, Jobben, Studium nicht hinbekommen. Aber niemand in dieser Republik weiß, was hinter den einzelnen Langzeitstudenten steckt – bevor man es weiß, wird mit konservativen Peitschenhieben versucht, die Ordnung des studentischen Lebens herzustellen.

Deshalb ein Zwischenruf: erst hinsehen, den jungen Leuten zuhören, dann urteilen und über Reformansätze nachdenken. Nichts gegen einen Druck auf Hochschulen, hier engagiert endlich mehr ihren Pflichten nachzukommen: nämlich einer möglichst großen Zahl von Studierenden die Möglichkeit einzuräumen, nach einem Examen in den verschiedensten Berufen eine menschengerechtere Gesellschaft zu verwirklichen.

Wie könnte das aussehen? Jeder Fachbereich lädt alle Studierenden über dem 14. Fachsemester und dem 20. Hochschulsemester zu Gesprächen über ihre Arbeits- und Lebenssituation ein. Hier kann es nicht um Rausschmiß, Studiengebühren und Gardinenpredigten gehen, sondern darum, wahrzunehmen, warum jemand solange studiert. Nach den Erfahrungen der Germanisten der FU und nach der Durcharbeitung unserer Politologen-Statistik zeigt sich rasch, daß sich der Mythos vom bummelnden Langzeitstudenten schwerlich halten läßt. Natürlich gibt es eine nicht gerade kleine Zahl, denen das Studium zwischen den Händen zerronnen ist, wo auslaufendes Bafög, die kleine Tochter und das Jobben sich unheilvoll verbanden und jetzt das 32. Semester begonnen wird. Natürlich gibt es den gut verdienenden Rundfunkredakteur, der sich mit dem Studentenausweis einer preiswerten Krankenkasse und einer billigen Kinokarte bedient. Aber daneben gibt es die entmutigten Studenten, die von ihren Professoren im Zweiminutentakt abgefertigt worden sind. Die Studenten bleiben, weil sie sonst erwerbslos sind, ein mageres Stipendium mit den kleinen Vorteilen des Studentenausweises koppeln, die als Ausländer vor der Abschiebung stehen, wenn sie ihren Studenten- oder Doktorandenstatus verlieren.

Der Langzeitstudent ist ein Mythos – dahinter verbergen sich ganz unterschiedliche Arbeits- und Lebenssituationen, die nicht über den Leisten zu schlagen sind. Sie sind das Spiegelbild von Studium, sozialer Situation, Arbeitsmarkt und Ausländerpolitik gleichzeitig. Angesichts dieser Situation werden deshalb Studiengebühren weder juristisch noch sonst Bestand haben. Wenn wir als Hochschullehrer unsere Aufgabe der Beratung und Entscheidungshilfe ernster nehmen, Entscheidungsdruck für die Studierenden entsteht – dann gewinnen wir oft nicht die schlechtesten Köpfe unserer Studierenden. Der Streit um die Langzeitstudenten wird als falsche Legende mit Blumen begraben. Deshalb ist der jüngste Beschluß der Ministerpräsidenten der Länder eine Provokation gegenüber Studierenden und Professoren. Eine Regelstudienzeit von neun Semestern soll eingeführt werden. Kaum einer will, daß Studierende mehr als sechs oder sieben Jahre an den Universitäten verbringen, aber wer neun Semester zum völlig unbelegten Maßstab für Quick-Qualität erhebt, der hat vom Bildungs- und Arbeitsmarkt gleichermaßen nichts verstanden. Wir könnten ja mal das „Who is Who“ der besten Köpfe unserer Republik befragen, wer nach den neuesten Maßstäben der Ministerpräsidentenrunde Langzeitstudent gewesen ist. Eine kleine Stichprobe zeigt schon jetzt, daß einige über neun Semester studiert haben – und gehören gleichwohl zu den respektablen Persönlichkeiten unseres Landes... Gegen so viel Unverständnis der Ministerpräsidenten wirkt nur ziviler Ungehorsam. Wir müssen an unseren Hochschulen vieles reformieren, aber wir lassen uns die Hochschulen auch nicht durch eine schlanke Produktion von Studierenden kaputtmachen. Nichts spricht dafür, daß Menschen mit acht, zehn, zwölf oder 14 Semestern später unterscheidbar bessere oder schlechtere Juristen, Mediziner oder Sozialwissenschaftler werden.

Hochschulen sind zu wichtig, als daß man sie mit falschen Argumenten für eine Diskussion um den Wirtschaftsstandort Deutschland verheizt. Also: Hochschullehrer müssen sich des zivilen Ungehorsams bedienen und zusammen mit den Studierenden mit einer Arbeitsniederlegung gegen den Ministerpräsidentenbeschluß protestieren. Aber diese bewußte Regelverletzung wird nur glaubwürdig sein, wenn wir Anstrengungen unternehmen, mehr Langzeitstudierende zum Examen zu bringen. Wer für eine produktive zeitliche Spannweite des Studiums plädiert, muß alles tun, damit am Ende des 12., 13. oder 14. Semesters der Lebensabschnitt Universität sinnvoll beendet werden kann. Ein neunmonatiges Examensgehalt von 1.000 Mark im Monat wäre zusammen mit einer guten Kommunikation eine Voraussetzung, den Prozentsatz von Absolventen und Absolventinnen zu steigern. Dem Neun-Semester-Erlaß der Ministerpräsidenten müssen wir mit zivilem Ungehorsam als unserer Dienstpflicht begegnen.

Der Autor ist Professor für Politik an der Freien Universität Berlin. Der nächste Beitrag erscheint am Montag kommender Woche.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen