piwik no script img

Und auf in die Provinz!

■ Beinahe übersehen: „Prärie“, eine Brecht-Uraufführung in Rostock

„Wollen Sie nicht nach Rostock kommen?“ fragt eine freundliche Stimme am Telefon. „Ich habe soeben den Höhepunkt meiner Tätigkeit als Dramaturg erreicht, und fast niemand hat es gemerkt. Für Kritiker scheint alles außerhalb Berlin/Hamburg/Wien Provinz zu sein, der Osten existiert gar nicht.“

Stunden später hockt der Rezensent auf einer Bank in der schmalen Studiobühne des Volkstheaters. Noch etwas skeptisch, aber gewillt, das Rostocker Theater für alles bisher Unterlassene heftig zu umarmen, harrt er der versprochenen Sensation. Die vielleicht letzte Uraufführung eines Stückes von Brecht ist angekündigt: ein 1919 als „Oper nach Hamsun“ entstandenes Libretto, nun erstmals vertont. Titel: „Prärie“.

In der Prärie gibt es bekanntlich nichts als arbeiten und schlafen und sehnsüchtig ins Blaue gucken und von Liebe träumen und von fremden, großen Städten und von Abenteuern und von einem neuen, glücklicheren Leben. Davon handelt das Stück und vom Kampf zweier Kerle: Mann gegen Mann. Der Kampf ist ungleich, auch wenn beide prärieübliche Leinenhosen und Unterhemden tragen und weißgepuderte Gesichter wie Pfannkuchen haben. Zachäus, ein kleines, aufgewecktes, bebrilltes Kerlchen (Titus Paspirgilis), fordert den schweren, großen Koch Polly (Franz Mewis) heraus. Zachäus veralbert ihn, zerreißt seine geliebte Zeitung, tritt ihm beim Ringkampf in den Unterleib und tauscht mit Lizzie (Rosita Mewis) – der einzigen, von beiden umworbenen Frau in dieser Einöde – heimlich Botschaften aus.

Polly seinerseits ist ein trauriger Goliath, der gar nicht weiß, wie ihm geschieht. Er schimpft schwerfällig wie ein sprechender Baum, der lange geschwiegen hat. Er hockt – gefällt – am Boden, hält die Schnipsel der kostbaren Zeitung in den Händen und erinnert sich zart an die vielen schönen Geschichten, die sein dumpfes Hirn brauchte, um in ferne Welten zu schweifen. Schließlich ersticht er seinen Rivalen – anders vermochte er sich nicht zu wehren.

Mit Leichtigkeit hat Michael Baumgarten die Traurigkeit dieser kleinen, poetisch rauhen Geschichte inszeniert, die Brecht bald ins „Dickicht der Städte“ verlegte. Dabei gestattet sich der Regisseur, den Autor zu verbessern, indem er den „Schurken“ Polly als die eigentlich interessante, unser Mitgefühl gewinnende Figur zeichnete. Brillant auch die Musik, die Wolfgang Florey ihm komponiert hat. Er zitiert Weill, mischt kräftige, jazzartige Rhythmen mit gefühlstriefendem Kitsch, würzt alles mit Ironie und läßt auch schon mal Pferde trappeln, wenn von Fernweh die Rede ist. Florey vermag den melancholischen Schmerz der Prärie so zu treffen, daß alles immer ein wenig wie Scherz klingt. Und weil das Stück (45 Minuten) nicht abendfüllend ist und Baumgarten einen dramaturgischen Kopf hat, läßt er noch zwei Kurzdramen von Brecht folgen: den Ulk „Lux in tenebris“ und das Songspiel „Mahagonny“. „Nun“, fragt mich der Dramaturg Schnabel nach der Vorstellung, „bedauern Sie es, ein Theater in der ostdeutschen Provinz besucht zu haben? Und wußten Sie eigentlich, daß am Rostocker Volkstheater in den letzten Jahrzehnten zweihundert Uraufführungen stattfanden?“ Ich schüttele schuldbewußt den Kopf und reiche ihm stumm die Hand. Ich habe meine Lektion gelernt: Auf in die Provinz! Dirk Nümann

„Auf nach Mahagonny!“, drei Kurzstücke von Bertolt Brecht; Regie: Michael Baumgarten; Musik: Wolfgang Florey/Kurt Weill; Ausstattung: Anna Cumin. Nächste Aufführungen: 10., 17. und 30. Dezember, jeweils 19.30 Uhr. Volkstheater Rostock, Ateliertheater, Doberaner Str. 134/135, Abendkasse: 24 42 53

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen