: Hitler auf der Couch
„Little Hitler oder Der Konjunktiv des Plusquamperfekts“ von Arnold Bernfeld in Stuttgart uraufgeführt ■ Von Peter Roos
Wien, Winter 1912. Ein solcher Klient war noch nie in der Ordination in der Wiener Berggasse: Er furzt und onaniert, bohrt in der Nase, winselt wie ein Wolf, pißt auf die heilige Couch, bricht den Penis einer Holzfigur aus Freuds Sammlung ab und verbrennt Freuds Schriften vor dessen Augen.
Hitler hat Angst. Der arbeitslose Kunstmaler, geschüttelt von Sexualneurosen und einer Blitzphobie, konsultiert den Psychoanalytiker Sigmund Freud. In 34 Sitzungen versucht der Arzt zu helfen, aber der Patient ist therapieresistent. Er ist frech, dreist, rotzig, er entfacht ein panisches Psychodrama, das den Therapeuten überfordert: Hitlers militanter Antisemitismus macht den Erfinder der therapeutischen Distanz zittern und läßt ihn alle Gesetze seiner Seelenkunst vergessen.
Das Erstlingsstück des unbekannten Autors Arnold Bernfeld, 1938 in Berlin geboren, nutzt die Psychoanalyse als Vehikel, das Phänomen Hitler zu verstehen, und das Spiel mit Hitlers Biographie treibt die Grenzen und Möglichkeiten der Psychoanalyse heraus. Ein tolles Stück, ein genialischer dramatischer Einfall. Bernfeld phantasiert dieses Zusammentreffen von Hitler und Freud irrwitzig souverän; dabei breitet er seine profunden historischen und psychoanalytischen Kenntnisse nicht als gelehrte Erörterung aus. Man muß fast nichts wissen, aber je mehr man weiß, desto größer ist der Schrecken, der Genuß.
Ein schnelles Stück, schnell inszeniert, diese erste Regiearbeit des Bühnenbildners Marcel Keller. Freuds Praxis, sparsam markiert mit Couch, Sessel, Bibliothek und Statuettenkollektion, lebt von den Einfällen einer grellen, stillen, gallig grünen oder auch mal grauen, warmen oder kalten Lichtregie. Die Besetzung stimmt. Jan Schreiber jagt seinen 23jährigen Hitler vom Regreß des gequälten, infantilen „Dolfi“ zu den kranken Triumphposen des größenwahnsinnigen Feldherrn. Körpersprache, Augensprache, pathologische Motorik führen einen jungen Hitler vor, der sich als Führer erst noch ausprobiert und doch schon alles hat – den ganzen Reichsparteitagszirkus vom Brüllen bis zum Hitlergruß, vom Liebeswinseln bis zur Mordlust. Aggressiv und devot läßt er sich füttern, streicheln, kratzen und auf der Couch zudecken von einem Freud, dem Klaus Weiss zunächst nur stilles Gewicht gibt. Aber die Intensität seines Zuhörens und der Zuwendung schafft einen Sog des Verstehens. Er verwandelt sich in einen Spiegel, in dem Hitlers Wahnsinn sichtbar wird. Und so wendet sich das Kräfteverhältnis von Hitler zu Freud.
Allein die unsinnigen und unkundigen musikalischen Garnituren gefährden Konzentration und Niveau einer Uraufführung, mit der das neue Stuttgarter Schauspiel unter Friedrich Schirmer seine Theaterarbeit der Seelen-Politik beeindruckend fortführt.
Weitere Vorstellungen: 17. und 18. Dezember
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen