Das „Sahnehäubchen“

Die „Spiegel“-Story über Felix K., beschuldigt des Brandanschlags von Solingen, wird von dessen Eltern als „intellektueller Schmierenjournalismus“ und „Vertrauensbruch“ gewertet  ■ Von Bernd Siegler

„Wie die Eltern des mutmaßlichen Solinger Attentäters Felix K. ihren Sohn an die Neonazi-Szene verloren“ – so kündigte der Spiegel in der Rubrik „Gesellschaft“ Mitte Dezember den Beitrag an. Spiegel- Redakteur Hans Leyendecker hatte sich der brisanten Sache angenommen. Auf sechs Seiten verschafft er dem Leser einen tiefen Einblick in Elternhaus und Seele des 16jährigen Felix K., der immerhin beschuldigt wird, an dem verheerenden Brandanschlag in Solingen beteiligt gewesen zu sein, der in der Nacht vom 28. auf den 29. Mai dieses Jahres fünf Türken das Leben gekostet hatte.

Der Report geht ins Detail. Leyendecker faßt die „bürgerliche Idylle, die sich für unbürgerlich hält“, in Worte. Der Vater Ernst K. habe früher Mao gelesen, sei heute Arzt und bei der Friedensbewegung engagiert; der Mutter Marianne K. lägen „die Ökologie und die Dritte Welt besonders am Herzen“, und „einen Pflegesohn gibt es auch“. Der Leser erfährt nicht nur, wie der kleine Felix „in natürlich verwildertem Garten Robin Hood spielte“, sondern auch, daß er die „Fingernägel bis ins Nagelbett“ abkaue und sein Intelligenzquotient „nicht gerade grandios“ sei. „So einer ist dann, auch wenn er weiter oben lebt, ständig vom Abstieg bedroht. Er sucht sich Schwächere, um sich stark zu fühlen“, übt sich der Spiegel-Reporter in Ursachenforschung. Die „ganz normale Renitenz gegen die Alten“ habe Felix K. dann den Neonazis zugetrieben. Die linken Eltern hätten zwar reagiert, aber nicht ausreichend. „Was Eltern so machen, wenn ihnen nichts mehr einfällt.“ Die Mutter redete dem Sohn ins Gewissen, wenn der wieder „Störkraft“ hörte, der Vater riß die Reichskriegsflagge von der Wand, der „freilaufende Hase im Garten“ von einst war längst vergessen.

Hier hat sich also eine Familie offenbart, hat Einblick in ihr Privatleben gewährt, um endlich dem Phänomen auf die Spur zu kommen, wie die kleinen Rechtsradikalen von heute entstehen und wie aus normalen Jungs Mörder werden. Oder? Die Spiegel-Wirklichkeit sieht ganz anders aus. „Es ist schon skandalös, wenn ein Journalist Intimdaten eines psychiatrischen Gutachtens veröffentlicht und einen 16jährigen Jungen öffentlich entblößt“, empört sich Vater Ernst K. über den Spiegel-Artikel. Dem Beitrag hätten keine ausführlichen Gespräche der Eltern mit Journalisten des Hamburger Nachrichtenmagazins zugrunde gelegen. Nur einmal, so Ernst. K., habe es ein Gespräch gegeben, und das sei im Juni gewesen.

„Wir hoffen, daß Sie die Zeit danach einigermaßen überstanden haben“, schrieb Spiegel-Mann Leyendecker neun Tage nach der Verhaftung von Felix K. den Eltern. Inzwischen hatte die Öffentlichkeit schon wahrgenommen, daß Felix K. einem linken Elternhaus entstammt. Stern und Bild hatten zielsicher die Story gewittert, die so gut ins allgemeine Klima paßte, wo von Bundeskanzler Helmut Kohl bis hin zur nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten der Grünen, Beate Scheffler, die antiautoritäre Erziehung der Alt-68er für die Heranzüchtung der jungen Rechtsradikalen verantwortlich gemacht wurde. Spiegel-Reporter Leyendecker wußte das. Er versuchte in dem Schreiben die besondere Note seines Nachrichtenmagazins herüberzubringen, um an die Eltern K. heranzukommen. „Da in diesen Tagen von selbstdiplomierten Jugendexperten und unerschrockenen Psychologen viel Dummes über die Abläufe in Solingen gesagt wird, möchten wir mit Ihnen ins Gespräch kommen.“ Als Gesprächspartner bot Leyendecker nicht nur sich, sondern auch den renommierten Spiegel-Gerichtsreporter Gerhard Mauz an.

Kurze Zeit später saßen Leyendecker und Mauz wirklich mit der Familie K. in deren Eßzimmer in trauter Runde zusammen. Man gab sich als Alt-Linke. Der eine, Vater K., erzählte vom kurzen Sommer der Anarchie, der andere, Leyendecker, ließ seine Zeit als DKP-Sympathisant und MSB- Spartakus-Aktivist Revue passieren. Das schuf Vertrauen, so wurden auch familiäre Dinge erzählt. Mehrmals, so erinnert sich Ernst K., haben sowohl Leyendecker als auch Mauz ihm dringlich geraten, ja keinem Journalisten etwas über die Familie und die pubertäre Entwicklung ihres Sohnes zu erzählen. „Sie sind das Sahnehäubchen des Nachkriegsjournalismus“, habe Mauz noch hinzugefügt, wohlwissend, in welcher Art sich die Medien über diese Interna hermachen würden: linke Eltern, rechtes Kind. Man verabschiedete sich und vereinbarte Stillschweigen über das Gespräch.

Seither hat Familie K. aus dem Hause Spiegel nichts mehr gehört. Bis zum 13. Dezember, als sie die Story „Wie die Eltern ihren Sohn an die Neonazis verloren“ lasen.

Linke Eltern, rechte Kinder – das gefällt

„Das Schlimmste war der Eindruck, wir hätten unser Kind der Öffentlichkeit preisgegeben“, erinnert sich Marianne K. an ihre erste Reaktion. „Das war unerträglich.“ Als Felix K. den Artikel in der Untersuchungshaft las, war er entsetzt: „Mama, was machen die aus mir.“ Vater K. war vom Spiegel tief enttäuscht: „Wir hatten auf die Seriosität und Diskretion der beiden Journalisten vertraut, aber das war ein abschreckendes Beispiel von Vertrauensbruch.“ Er wünscht sich nur noch, „daß möglichst viele ihr Spiegel-Abo kündigen, um dieser Art des intellektuellen Schmierenjournalismus einen Denkzettel zu verpassen“.

Was die Eltern stört, ist nicht nur, daß der Spiegel sich nicht an die Vertraulichkeit der Gespräche gehalten hat, sondern die Geschichte zum Teil aus dem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen psychiatrischen Gutachten über Felix K. zusammengeschrieben hat. Gerade die Details, die die Story so lebensnah machen, stammten zum Teil aus dem Gutachten und aus den Vernehmungsakten. Zudem habe sich Leyendecker als einer jener „unerschrockenen Psychologen“ erwiesen, von denen er sich der Famile K. gegenüber schriftlich und mündlich abgegrenzt habe. Selbst im veröffentlichen Beitrag noch. „Linke Eltern – rechte Kinder, das Stück gefällt“, schreibt Leyendecker, um dann aber konsequent genau dieses Schema durchzuhalten. Mit dem Ergebnis: Felix K., der „rechtsradikale Sohn... linker Eltern, für die Antifaschismus selbstverständlich war“.

Der Spiegel torpediert damit auch die zähen Versuche der Eltern, zusammen mit Freunden, Rechtsanwälten und Politikern die Unzulänglichkeiten der Ermittlungen im Mordfall Solingen herauszuarbeiten, die Hans-Ludwig Zachert, Chef des Bundeskriminalamts, immerhin von einer „schwachen“ Beweislage im Fall Solingen sprechen ließen. Erstaunlich, denn zwei Ausgaben zuvor hat der Spiegel mit äußerster Akribie und mit Genuß die Ermittlungsergebnisse auseinandergenommen und die Ungereimtheiten hinsichtlich Tatzeit, Brandbeschleuniger, Tatmotiv und das Zustandekommen von Geständnissen aufgelistet.

Jetzt wischt Leyendecker dies mit wenigen Federstrichen vom Tisch. Daß Felix K. sich lange vor dem Mordanschlag von der rechten Kampfsportschule Hak-Pao distanziert, sich über Rostock und Mölln entsetzt gezeigt und sich von seinem Geburtstagsgeld ein Anti- Nazi-T-Shirt gekauft hatte, ist für Leyendecker nicht von großem Gewicht: „Ganz so leicht sind die Codes dieser Jugend nicht dechiffrierbar.“ Daß die Eltern Beweise für die Unschuld ihres Sohnes sammeln, ist ganz normal: „Sie tun, was Eltern immer tun müssen, sie kämpfen um ihr Kind.“ Und: „Jeder in der Erwachsenenwelt lügt sich seine Wahrheit zurecht.“ Im Falle der Familie K. kommt noch etwas dazu: „das alte Mißtrauen der Linken gegenüber dem Staat“.

„Herr Leyendecker hat wohl doch das ,Sahnehäubchen‘ des Journalismus klammheimlich an Land gezogen“, schrieb Ernst K. an Gerhard Mauz. „Wir können von Ihnen und Herrn Leyendecker nicht erwarten, daß Sie unsere Zweifel an den Ermittlungsergebnissen teilen, aber mit journalistischer Fairness uns gegenüber hatten wir doch gerechnet, und das als ,Linke‘, um Herrn Leyendecker zu zitieren.“