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Für taube Ohren

Geschichte, erzählt von Frau J.  ■ Von Gabriele Goettle

Aus dem Krankenbericht:

„Überweisen wir Ihnen heute vereinbarungsgemäß unsere Patientin Anna-Maria J.

Die sehr schwierige und mittlerweile durch Taubheit und hochgradige Senilität geprägte Patientin war seit 1984 Insassin unseres Altenwohnheimes. Wegen ihrer Desorientiertheit und der damit gegebenen Pflegebedürftigkeit konnte Frau J. nicht länger bei uns versorgt werden.“

Nun sitzt Frau J. in steifer Haltung im leeren Tagesraum eines katholischen Altenpflegeheimes und rührt sich nicht von der Stelle. Es ist bereits Mitternacht, aber sie weigert sich energisch, das Bett aufzusuchen – wegen der „ewigen Rattenplage“, wie sie erklärt. Danach schaltet sie ihr Hörgerät aus und ist nicht mehr ansprechbar. Abgewandt von der beleuchteten Weihnachtskrippe verharrt sie bewegungslos im halbdunklen Raum und wirft einen undeutlichen Schatten auf die gegenüberliegende Wand. Plötzlich beginnt sie mit kräftiger Stimme zu sprechen.

Der dauert ja heute so lange, der Alarm. Schon seit Stunden haben wir Feueralarm, da kann ja kein Mensch schlafen... so, ich schalte mein Hörgerät einfach ab, und passen Sie mal auf, junger Mann, wenn der Alarm zu Ende ist, dann geben Sie mir einfach ein Zeichen mit dem Finger, so, sehn Sie. Wo sind denn die andern alle, es ist ja vollkommen leer hier? Sicher schon abgereist. Sagen Sie, wie spät ist es denn überhaupt? Ich hab nicht mal was zum Abendbrot gehabt heute. Doch, ich erinnere mich, ich habe eineinhalb Brötchen gegessen, oder waren es zwei? Die habe ich wohl gegessen und danach habe ich abgewartet, was nun wird. Gewartet und gewartet habe ich und immerzu bei mir gedacht, daß es jetzt Zeit wird für mich zu gehen. Ich bin schon viel zu lange hier in diesem fremden Hause. Auf Wiedersehen, leben Sie wohl... Hören Sie noch was vom Alarm, junger Mann? Der wird wohl nie mehr abgeschaltet?

Wieso steht hier eigentlich kein Christbaum und nichts! Das ist doch ein katholisches Haus, denke ich? Streng katholisch, hat man behauptet. Ich sagte doch, daß ein jüdisches Altersheim für mich nicht in Frage kommt! Ich bin katholisch! Frau Schnalcke, die ist nicht katholisch, ich weiß es genau. Aber bei mir stehen sie vor der Tür, täglich, und dann geht der Terror los: „Sie wollen uns doch nicht weismachen, daß Sie katholisch sind!“ Also ich sage nur eins, wenn die reinkommen, dann lebe ich schon nicht mehr, da ist nichts mehr zu machen. So schnell kann es zu Ende gehen, gottseidank. Morgen vormittag bereits lebe ich nicht mehr, denn ich soll ja Punkt neun in den Brunnen geworfen werden.

Aber was kümmert das mich? Ich bleibe einfach hier sitzen, schließlich bin ich katholisch, das steht sogar zum Fußende meines Bettes zu lesen! Das kann mir keiner nehmen, meine Religion, meinen Glauben. Aber bei Frau Schnalcke, das habe ich gestern genau gesehen, da steht nichts dergleichen drauf, das habe ich auch der hohen Kommission gesagt, die gestern hier war. Da gabs eine Debatte, eine Aufregung, ein Gequatsche deswegen, stundenlang. Man überprüft das jetzt genau, wer dies oder jenes ist. Ein Herr sagte zu mir: „Sie sind doch eine geborene Stern, geboren von Juden, 1911 in Berlin?“, ich habe geantwortet: „Tut mir leid mein Herr, ich hab mein Hörgerät nicht drin, ich bin absolut taub, leider, und außerdem katholisch.“ Sehnse mal, was ist denn das? Sind das Ratten oder was? Nein, Hamster sind das nicht! Die sind ja ganz klumpig die Tiere, Gott, wie eklig. Guckense doch mal, was das ist, da, da läufts davon!

Frau Stern? Kenne ich nicht! Ich bin das Nachthemd, und solange ich lebe, bin ich schon Nachthemd! Da sind zwar noch mehrere andere Nachthemden, aber ich bin das längste. Das habe ich dem Herrn genau erklärt. Man kann das ohne weiteres riskieren, denn so kurz vor Weihnachten geht nichts mehr in die Plätterei, das war meine Überlegung.

Dann möchte ich auch gleich noch einen Antrag stellen auf eine katholische Beerdigung. Ich war ja für alle immer nur das Anna-Mariechen, machen Sie, was Sie wollen, ich bin streng katholisch, es steht auf meinem Bett und hier vorn auf dem Nachthemd ist es auch aufgenäht, hier auf der Brust. Deshalb brauche ich eine katholische Beerdigung, sagen Sie das der Leitung! Auf dem jüdischen Friedhof, da weiß man nichts von mir. Meine zwei kleinen Schwestern sind dort schon verschwunden auf Nimmerwiedersehen! Das ist nichts für mich! Warum wollen Sie denn das unbedingt abstreiten, daß ich katholisch bin? Schweinskotelett, Käsekuchen, Blut- und Leberwurst, ich esse alles, gegrüßet seist Du Maria... Immer noch Alarm, junger Mann? Haben Sie das gestern gesehen, wie sie rumgezogen sind mit den Fackeln, schön sah das aus, aber wenn einer nicht aufpaßt, dann bricht schnell ein Brand aus, dann geben sie Feueralarm und wir haben das Nachsehen! Nachher, als schon alles in Scherben lag, kam ein schwarzgekleideter Herr, der muß von der Kirche gewesen sein, ein Priester, der sagte zu uns: „Ich muß mich hier wohl entschuldigen, für die Unordnung, die wir angerichtet haben.“

Aber die hohe Kommission gestern, die hatte keinerlei Einsehen. Sie standen um mein Bett, die Herren, und einer sagte: „Die muß hier raus, die Frau, die gehört nicht hierher!“, der andere Herr jedoch widersprach ihm gleich: „Nein, nein, Anna-Mariechen muß hier in diesem Zimmer liegen bleiben!“ Aber der erste Herr wollte, daß ich rauskomme. So ging das eine Weile hin und her. Dann endlich war es soweit, daß man mir geglaubt hat, daß ich katholischer bin als katholisch. „Ich gehe regelmäßig zur Beichte, hier in der Nachttischschublade können Sie sich überzeugen, das ist mein Rosenkranz, zur Kirche gehe ich täglich, fragen Sie den Priester“, sagte ich zum Herrn. So eine große Revolte war das gestern, alle sind immer noch ganz erschöpft davon. Aber immerhin, als er ging, hat er mich eine echte Katholikin genannt. Was sich andere nie leisten können, das hat man mir sozusagen umsonst gegeben.

Aber im Grunde genommen ist mir das alles vollkommen gleichgültig, denn ich muß ja morgen doch sterben. Vorher aber hätte ich gern noch ein schönes Schweinskotelett, paniert und goldbraun in Schmalz herausgebacken. Bald ist Weihnachten, bald werde ich 82. Früher habe ich gearbeitet, als kalte... eh... als warme Mamsell, sogar bei Franzosen. Eine Familie mit zwei Kindern war das. Aber heute erinnert sich dort niemand mehr an mich, ich kann hier in aller Ruhe vor die Hunde gehn...

Ich bin das Nachthemd, Anna Maria J., geborene Stern, 22 Jahre verheiratet, ein Kind! Die Polizei hat mich aufgegriffen, man hat mich verdächtigt, aber ich bin katholisch, schon immer katholisch, es steht sogar zum Fußende an meinem Bett, überzeugen Sie sich! Ich war ja all die Jahre im Gaststättengewerbe tätig, als Annonceuse, auch alle Wirtschaftsaufgaben hatte ich unter meiner Obhut, sogar den Wein- und Bierkeller, das hätten Sie nicht gedacht. Man hat sich nach meinen Anweisungen gerichtet bei... ja wie heißt es denn... hier in Berlin, das, was dann nachher im Kriege zusammengefallen ist? Der Herr von der Polizei hat mich ausführlich begutachtet und meine Angaben aufgenommen. Aber am Ende hat er dann doch anderen Stimmen geglaubt und gesagt: „Ich glaube, Sie sind umgetauft worden. Ob das seine Gültigkeit hat, muß erst noch an höherer Stelle überprüft werden, ich muß Sie leider solange in Arrest nehmen!“ Das war ja alles gar nicht zu verstehen früher. Bei uns im Hause waren zwei sehr nette Lehrerinnen, schon pensionierte Damen, die kamen zuerst weg. Ich habe gesehen, wie sie in den Wagen gestiegen sind mit ihrem Gepäck. Später sind wir dann auch weggekommen, die Eltern, Hans und ich, uns hat man ja deportiert in die Fremde... und dann... haben andere Menschen unsere Wohnung in Besitz genommen. Das ganze Haus ist ausgebombt worden im Kriege, keiner hat überlebt. So schön wars also früher auch nicht, wie immer behauptet wird, und das sage ich nicht nur deshalb, weils bald mit mir zu Ende ist. Was das allerdings bedeutet, das dauernde Geraune, Nacht für Nacht, kann ich mir nicht erklären. Aber ich werde schon noch dahinterkommen... pst! Leise! Jetzt kommt wer. Ich glaube, sie hat schon wieder gelauscht, die schreckliche Person. Immer das Ohr an der Tür! Aber ich habe nichts zu verheimlichen, ich sags ganz offen, heutzutage laufen überall Diebe und Verbrecher herum, jetzt nehmen sie sogar den alten Leuten die Unterhosen weg auf offener Straße! Aber weit werden sie damit nicht kommen, soviel steht fest!

Überhaupt ist da ein Haß überall. Einmal habe ich Frau Schnalcke gefragt, ob ich mich einen Moment neben sie hinlegen kann, so erschöpft war ich von der harten Arbeit, aber sie hat es verboten, hat nur gesagt: „Werden Sie nicht falsch, sonst lasse ich sie abholen!“ Ich beobachte sie genau. Ich stelle mich so ein wenig abseits und wenn sie dann reinkommt, in ihr Zimmer, dann geht sie immer in ihre Ecke, ißt heimlich Schokolade und denkt, daß es keiner bemerkt. Ich stelle mich immer so, daß sie mich nicht sehen kann, denn die ist ja gemeingefährlich, die Person. Einmal, ich weiß nicht, wie sie mich entdeckt hat, kommt sie auf mich zugestürzt mit irgendwas in der Hand und da hat die mich geschlagen, immer drauf bei mir, immer drauf. Gegenwehr ist da ganz zwecklos, ich habe ein paar starke Stücke abgekriegt. Sehnse mal, jetzt ist schon alles bis hierher aufgeschwollen, vorher war das noch nicht. Mir ist, als ob alle Knochen in meinem Leib zerbrochen wären, au... au...! Was ist denn das auf meiner Nase, können Sie mal gucken, bitte, nicht nur hier, sondern auch hier, der dicke Buckel, der sonst nie war, auch den habe ich dieser Bestie zu verdanken. Und nun tun Sie mir mal den Gefallen, gehn Sie mal in ihr Zimmer, bestimmt hat sie sich schnell in ihr Bett gelegt, die Decke bis zur Nase, und tut so, als wäre nie was geschehen.

Wenn die Herren von der hohen Kommission morgen wiederkommen, werde ich die Sache ein für alle Mal klarstellen.

Mit einer Christin, einer Katholikin, kann man so nicht umspringen. Damals dachte ich ja noch, es ist für höchstens eine Woche, aber dann verging die Zeit und ich habe gewartet und gewartet und gar nichts hat sich gebessert, keinen von uns hat man entlassen, bis heute nicht! Das ist doch unerhört, man hat uns das nicht gesagt, daß das für immer sein soll. Junger Mann, seien Sie mal ehrlich, ist heute Mittwoch oder Freitag? Man sagt uns ja nicht einmal die Uhrzeit korrekt an. Lassen Sie sich nur Zeit, und behalten Sie aber bitte Frau Schnalcke im Auge, sie liegt im Bett unter der Decke und verstellt sich momentan, sie denkt, weil es draußen noch finster ist, kann sie Gesichter schneiden hinter meinem Rücken. Die freut sich noch, wenn ich im Dreck ersticke! Jetzt sitze ich schon seit Ewigkeiten hier und starre auf die Wand, was soll denn nur aus mir werden? Meine linke Seite ist ganz warm, meine rechte Seite ganz kalt, bitte helfen Sie mir. Helfen Sie mir doch! Hallo! Heda! Ist hier niemand? Ich glaube, es brennt dort drüben... Hilfe! Feuer! Alles ruhig, so als wäre gar niemand zu Hause, dabei sehe ich doch dort zwei paar Schuhe unter dem Bett stehen, was soll das? Sagen Sie mir bitte, was das zu bedeuten hat, es brennt hier alles ab in aller Ruhe und die Herren haben es nicht nötig, sich zu beeilen mit den Löscharbeiten. Ich glühe ja schon am ganze Leibe vor Hitze! Heda, Feuer!

Meinetwegen, soll alles niederbrennen! Die sind hinterher um eine Erklärung nie verlegen, das kennen wir schon. Sie lassen mich da sitzen in der Asche, es ist ja nicht der Mühe wert. Wenigstens hat man mir mein Taschentuch gelassen, damit ich nicht ganz mittellos dastehe. Der Herr von der Kirche hat gesagt: Ich muß mich wohl

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entschuldigen für diese Unordnung, aber wo soll ich denn nun wohnen in Zukunft, in der Straßenbahn, im Autobus, in der U-Bahn? Schließlich haben wir Winter, die Nächte sind eiskalt. Sie, ich verstehe Sie nicht, sprechen Sie mit mir? Ich habe mein Hörgerät ausgeschaltet, man will hier meine Hilflosigkeit ausnützen, die Scheiben im Schlafzimmer sind eingeworfen und mein Vater hatte eben erst eine Lebensmittelvergiftung, derweil sind überall Brände ausgebrochen, deshalb der Alarm. Ich kann ihn nicht mehr hören! Und bitte, nehmen Sie das weg, das Essen, ich brauche das alles hier nicht. Wenn man einen Mensch einmal derart im Stich gelassen hat, dem schmecken dann auch die besten Speisen nicht mehr so wie sonst. Das sage ich ganz ruhig, mir ist schon ganz egal, daß ich an Ort und Stelle bleiben muß. Kälte, Nässe, Krankheit und Fieber können mich nicht mehr aus der Ruhe bringen, aber daß meine Nase nun so riesig angeschwollen ist, das geht zu weit!

Übrigens, Frau Schnalcke ist gestern wieder gestürzt, nur, damit Sie Bescheid wissen. Um die isses nicht schade. Die Brille ist auch kaputt, ein Glas und der Bügel! Jetzt ist sie blind wie ein Maulwurf, tastet hierhin, tastet dorthin. Werfen Sie mal einen Blick zum Fußende ihres Bettes. Frau Schnalcke ist evangelisch! Frau Schnalcke kann getötet werden! Ich bin katholisch, katholischer als katholisch, von Kindesbeinen an ist die Jungfrau Maria mein ein und alles... nehmen Sie die Hand weg, ich kann von alleine gehen! Ich suche schon stundenlang, da war ein dicker Herr mit Bart, der schickte mich in diese Richtung. Ist hier nicht irgendwo eine Treppe, auf der ich abgehen kann?

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