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taz-Krimi, Teil 4Die Asylanten kommen

■ Eine Fortsetzungsgeschichte in fünf Folgen von Christine Grän / Ein kalter Winterabend, die Weihnachtskollekte in der Stammtischrunde, und Hinrich schweigt

Der alte Hinrich, der jetzt wütend auf seinen Sohn zustapft, hat nie viel von der Bibel gehalten und nicht von seinem Sohn. Die Menge weicht zurück, mit dem Alten ist nicht gut Kirschen essen, der Alte schlägt zu, wenn man sich ihm in den Weg stellt.

„Halts Maul, du Idiot, und komm ins Haus!“ Hinrich hat seinen Sohn am Kragen gepackt und schiebt ihn vor sich her, der Dorftrottel folgt ihnen erschreckt, und die anderen machen zögernd den Weg frei. Dies ist eine Familienangelegenheit, in die mischt man sich nicht ein, das ist ungeschriebenes Gesetz im Dorf. Der Abgang wird von bösem Gemurmel begleitet, doch nun, da keiner mehr vorschreit und vorprischt, ist die Luft raus. Man beißt die Zähne zusammen und zieht sich ungeordnet zurück in den „Goldenen Hirschen“ oder in die Häuser mit den netten Blumenkästen.

„Ein Sieg der Vernunft über die Gefühle“, wie es der Dorfpoet später am Stammtisch formuliert. Der Pfarrer sendet ein Stoßgebet zum Himmel, während der Apotheker zutiefst bedauert, das Spektakel versäumt zu haben. Mit einem jungen Hinrich als Anführer, das mußte ja schiefgehen. Aktionen zur Rettung des Dorfes bedürfen der Umsicht eines erfahrenen Kämpfers. Man wurde nicht umsonst ausgezeichnet im letzten Krieg, in einer Zeit, als es noch Werte gab, für die man zu kämpfen und sterben bereit war, nicht diese große Stumpfheit und Leere, die Politik der Feiheit und den Ärger mit den Krankenkassen. Würde seine Existenz nicht an einem kleinen Dorf hängen, längst hätte er sich wieder politisch engagiert. Die Transparenz dieses Ortes und die anzüglichen Bemerkungen des Briefträgers haben ihn sogar dazu gebracht, in einem Akt spontaner Feigheit die Nationalzeitung abzubestellen.

Der Pfarrer bittet die Stammtischrunde, für seine Weihnachtskollekte zugunsten bosnischer Waisenkinder zu spenden. Er hat damit gewartet, bis der Alkohol die Seelen milder stimmt. Der Gemeinschaftsdruck tut ein übriges, und als der Apotheker mit einem Hundertmarkschein die Runde eröffnet, liegt alsbald eine erfreuliche Summe auf dem schweren Eichentisch. Der Pfarrer erzählt von dem Elend der bosnischen Kinder, und die Stimmung ist beinahe sentimental, als Hinrich ins Gastzimmer kommt, die leibhaftige Erinnerung an die dunklen Schatten, die über dem Dorf liegen. Da verstummen Gespräche, kommen rachsüchtige Gedanken auf. Hinrich steht an der Theke, er setzt sich nicht zu den anderen, groß und provozierend steht er da, als wären sie schuld, die alle. Das mögen sie nicht, und sie erinnern sich, daß der Hinrich schon immer gegen das Dorf gehandelt hat, auch damals, als der Golfplatz gebaut werden sollte und er sich weigerte, seine brachliegenden Äkker zu verkaufen. Der Hinrich, der seine Söhne schlägt und seine Frau aus dem Haus trieb. Der Hinrich, der für Judaslohn das Dorf verraten hat.

„Wird ein heißer Winter, Hinrich“, sagt einer der Bauern. „Mir sind ein paar Hühner weggekommen und du weißt schon, wohin ...“

Hinrich schweigt.

„Die kochen mit offenem Feuer. Paß bloß auf, daß dir nicht alles niederbrennt, Hinrich.“ Das war der Apotheker. Die anderen lachen, bis auf den Pfarrer und den Angesprochenen. Steht immer noch da wie einer, den die Herde ausgestoßen hat und der auch noch stolz darauf ist.

Der Dorfpolizist beschließt, nichts zu sehen und nichts zu hören und in Ruhe sein Bier zu trinken. Als Vertreter der Staatsgewalt würde er seine private Meinung nicht öffentlich kundtun, aber auch er glaubt, daß ohne die Asylanten wieder Ruhe und Ordnung einkehren würden. Und dafür ist er schließlich zuständig.

„Ihr werdet euch noch wundern, ihr Brandstifter“, sagt der Hinrich jetzt und legt ein Geldstück auf die Theke. Ganz still ist es im Gastraum, bis der Pfarrer sagt: „Ich muß mich gegen diese ungeheure Anschuldigung verwehren, Hinrich; du kannst doch nicht einfach ...“

Er hat sein Bier ausgetrunken, in einem Schluck, und jetzt geht er zur Tür. „Ich kann schon was machen“, sagt er bedeutungsvoll, bevor er die Tür gewaltig hinter sich zuschlägt.

Was meint er damit wieder? Auf die Stille seines Auftrittes folgen wildes Stimmengewirr und allgemeine Verwirrung. Das macht durstig, und das Löschen des Durstes wiederum setzt Phantasie frei. Nur die Bedächtigsten unter ihnen meinen, daß der Hinrich einfach übergeschnappt sei, wie der Sohn, so der Vater. Andere glauben, daß er jetzt hingeht und seine Schnapsfabrik anzündet, damit der Spuk ein Ende hat.

Es ist Samstagabend, kurz nach 20 Uhr. Im „Goldenen Hirschen“ wird heftig spekuliert, während andere ahnungslos bei „Mario“ sitzen und Pizza essen, die Frauen ihre Kinder zu Bett bringen und die Dorfjugend sich in der Disco versammelt. Es ist ein kalter Winterabend. Die Frau des Apothekers zieht die Gardine zur Seite, als sie Hinrich vorbeifahren sieht mit seinem japanischen Auto. Er fährt zu seinem Hof, das kann sie nicht mehr sehen, Dort geht er in den Keller und wuchtet ein gewaltiges Faß die Treppe hoch und in seinen Wagen. Er fährt zur alten Schnapsfabrik.

Um 22.45 Uhr, als im „Goldenen Hirschen“ die Kellnerin gähnt und die letzten Bestellungen aufnimmt, vernehmen die Trinker in der Gaststube einen gewaltigen Lärm. Gejohle und Geschrei hören sie, es klingt fremd, und dann geht die Tür auf, und sie sehen zum ersten Mal den Gegenstand ihres kollektiven Zorns vor sich, nein, die Gegenstände, es sind ja mehrere, unzählige ... Ausländer, die Asylanten. Sie sind, die deutschen Gäste sehen es sofort, sturzbetrunken.

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