Ein Heide füllt das Gotteshaus

■ Gregor Gysis politische Neujahrspredigt in Wettbergen bei Hannover sorgt für Ärger

Hannover (taz) – Der Kirchenvorstand der evangelischen Johannes-der-Täufer-Gemeinde im hannoverschen Vorort Wettbergen hatte von vornherein mit Andrang gerechnet. Nicht in der kleinen, nur 180 Gläubige fassenden Kirche fand diesmal der traditionelle Neujahrgottesdienst statt, sondern nebenan im größeren Saal des modernen Gemeindehauses. Doch auch der konnte die 600 Besucher nicht fassen; per Lautsprecher mußten Predigt und Gebete in den Vorraum des roten Klinkerbaus und sogar nach draußen übertragen werden. Nach dem letzten Lied trat Gregor Gysi an das Pult neben dem kleinen golden Flügelaltar, und er war ungewohnt unsicher und nervös. „Dies ist für mich der erste Auftritt in einer Kirche, in der noch praktiziert wird, die kein Museum ist“, entschuldigte er sich und betonte dann, daß er kein „Atheist“ sei, „der die bekennende Religion kämpferisch ablehnt“, sondern ein von Glauben bisher unberührter „Heide“.

Gysi sah Parallelen zwischen Arbeiterbewegung und Christentum, deren Geschichte ähnlich widersprüchlich sei, in denen sich in gleicher Weise Leistung, Heldentum und Leiden mit Irrtümern, riesigen Fehlern und großen Verbrechen paarten. Als der PDS-Fraktionsvorsitzende schließlich angelangt war beim Thema Politikverdrossenheit, aus der keine Demokratieverdrossenheit werden dürfe, hatte er auch seine Eloquenz und Sicherheit wieder gefunden. In der eineinhalbstündigen Diskussion schließlich, in der es natürlich um DDR-Unrecht, um die Mauer, um die Erneuerung der SED zur PDS ging, hatte er auch hier unter den Christen wie gewohnt den Beifall auf seiner Seite.

In Wettbergen hat der politische Neujahrgottesdient eine lange Tradition, haben schon Günther Wallraff oder etwa auch der heutige niedersächsische Ministerpräsident Schröder gepredigt. Diesmal aber schien es, als hätten Kirchenvorstand und der Gemeindepastor Berthold Schwarz den Leibhaftigen persönlich eingeladen. Da wollten CDU-Kommunalpolitiker in andere Gemeinden wechseln, sich „umpfarren“ lassen. Da schimpften anonyme Anrufer nicht nur, sondern drohten auch Brandanschläge an. Das hannoversche Landeskirchenamt bat vorab die Gemeinde um einen Bericht über den bevorstehenden Gottesdienst. Der Landessuperintendent nannte den Auftritt Gysis „unsensibel und geschmacklos“. Am Ende fand der Kirchenvorstand dann einen so recht christlichen Kompromiß. Bevor Gregor Gysi das Wort bekam, sprach die Vorsitzende Ursula Stoewer davon, daß es nicht leicht gefallen sei, „nach all den Protesten zur Einladung an Dr. Gysi zu stehen“, und begrüßte listig alle Gottesdienstbesucher noch einmal „zu einem Neujahrsempfang“. Ob der Heide Gregor Gysi nun seine erste Predigt oder nur eine Ansprache gehalten hat, das muß wohl offenbleiben. Jürgen Voges