: Nächstenliebe -betr.: Berichterstattung über den Hungerstreik von Flüchtlingen auf der "Floatel Altona"
Betr.: Berichterstattung über den Hungerstreik von Flüchtlingen auf der „Floatel Altona“
Am 4. Advent ging ich mit zwei Freundinnen in das Weihnachtsoratorium im Michel. Wie jedes Jahr um diese Zeit festliche Stimmung mit einem großen Weihnachtsbaum, Adventskranz, überall Kerzen (...) Plötzlich jedoch gibt es eine Bewegung auf dem Altar, die nicht ganz in das festliche Bild paßt - eine kleine Gruppe junger Leute entrollt ein Transparent.
Es geht um die Flüchtlinge auf dem Wohnschiff „Floatel Altona“, die sich seit dem 11.12.93 im Hungerstreik befinden, um u.a. gegen eine drohende Abschiebung unter dem neuen Asylgesetz, die menschenwürdige Unterbringung und Behandlung zu protestieren (...)
Das Mädchen am Mikro kommt trotz der vorherigen Mahnung des „Hausherrn“, dem Hauptpastor, in den fünf Minuten der Ansprache ruhig zuzuhören, kaum zu Wort durch die Buhrufe, lautes Klopfen auf den Kirchenbänken, Gejohle; nur eine Minderheit klatscht Beifall. Die feierlich-besinnliche Stimmung ist vorbei.
Wir drei haben uns mittlerweile erhoben und stehen dicht neben dem Mikrophon, um die Rede zu verfolgen. An uns vorbei stürmt eine Frau hinaus, elegant und in Pelzmantel gekleidet. Mit wutverzerrtem Gesicht ruft sie: „Den Hals umdrehen könnte ich denen!“, kurz darauf schreit ein älterer Mann von hinten: „Raus mit dem Pack!“, ein anderer gibt im Anschluß den Kommentar, die sollten lieber arbeiten... Viele Gesichter rund um uns sind aggressiv; die Stimmung ist äußerst feindselig gegenüber denjenigen, die sich da einfach das Recht nehmen, sich vor dieses Weihnachtskonzert zu schieben.
Ich bin erschrocken über diesen großen Teil des Publikums, der offensichtlich nicht in „unpassenden“ Momenten (oder aber gar nicht) etwas über die Menschen hören will, die sich in so großer Not befinden, daß sie einen Hungerstreik beginnen, um auf sich aufmerksam zu machen.
Noch mehr hat mich jedoch die Massivität dieser Reaktion und die Schärfe von Tonfall und Vokabular beunruhigt, in der sich gegen die fünf, sechs Leute geäußert wurde, und das, obwohl diese von Anfang an deutlich machten, daß es ihnen nicht darum ging, das Konzert zu „sprengen“; sondern nur darum, die Pressesperre, die für die Schiffe und damit dem Hungerstreik gilt, zu durchbrechen und Öffentlichkeit zu schaffen.
Ich bin sehr besorgt darüber, wie mit Menschen umgegangen wird, die sich ganz offensichtlich für andere Menschen einsetzen - und dies in einer Zeit, in der eine solche Unterstützung ganz besonders erforderlich ist, und erst recht an einem Ort wie diesem: eine Kirche in der Weihnachtszeit, in der Nächstenliebe doch so viel gepriesen wird.
Gunda Weiland
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