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„Nicht perfekt, aber echte Freundlichkeit“

■ Deutschlands erstes Behindertenhotel steht in Altona / Am Anfang stand eine „verrückte Idee“  Von Gaby Werner

In dem kleinen, gemütlichen Frühstücksraum sitzen die ersten Gäste. Durch die großen, von zartgestreiften Vorhängen eingerahmten Fenster läßt sich der noch dämmerige August-Lütgens-Park erahnen. Mitten im Raum ein appetitliches Frühstücksbüffet, im Hintergrund ertönt dezente klassische Musik.

„Guten Morgen. Mein Name ist Paschen. Ich bin einer der Mitarbeiter.“ Die Worte sprudeln hervor, ein wenig hastig. Clemens Paschen, ein junger Mann in schwarzem Anzug und Fliege, begrüßt die Gäste und erkundigt sich nach ihren Wünschen: „Tee oder Kaffee? Möchten Sie ein gekochtes Ei?“

Clemens ist einer von sechs geistig behinderten Jugendlichen, die unter der Leitung des erfahrenen Hoteliers Arezki Krim im „Stadthaus-Hotel“ in der Altonaer Holstenstraße arbeiten und leben. Die Jugendlichen wohnen in einer Wohngruppe im ersten Stock, zusammen mit zwei schwer behinderten Mädchen. Zwei Jahre lang wurden sie an der Berufsschule Uferstraße zu Hotelfachleuten ausgebildet – als erste Klasse von Behinderten an einer „normalen“ Schule. Eine kleine Revolution.

Die Garderobe ist im Sitzen erreichbar

Das „Stadthaus“ ist das erste Behinderten-Hotel Deutschlands. Alle Zimmer sind behindertengerecht ausgestattet. Die Betten sind etwas schmaler und höher als üblich, die Garderobe ist im Sitzen erreichbar, Duschen und Toiletten verblüffen durch ihre Großzügigkeit. Lichtschalter und Türgriffe sind niedriger montiert, die überbreiten Verbindungstüren öffnen sich auf Knopfdruck. Alle Zimmer sind mit Notrufanlagen ausgestattet. Ein Geländer im Flur und die reliefartigen Zimmernummern ermöglichen Blinden, ihren Raum selbständig zu ertasten.

Clemens steht am Eingang zum Frühstücksraum, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, und beobachtet mit professioneller Unauffälligkeit Gäste und Büffet. Ab und zu schaut Geschäftsführer Arezki Krim herein. Durch ein Flüstern oder nur einen Blick aus den Augenwinkeln bedeutet er ihm, was zu tun ist: Clemens holt neuen Aufschnitt, füllt Kaffee nach. „Ich muß immer ein bißchen darauf achten, daß die Jugendlichen nichts vergessen“, sagt der gebürtige Algerier mit ruhiger, melodischer Stimme. Er kennt ihre Schwächen und weiß, daß er vieles immer wieder erklären muß. Aber: „Sie haben in den letzten Monaten ungeheuer viel dazu gelernt.“

Seit September diesen Jahres ist das Hotel geöffnet, eine Nacht kostet zwischen 130 und 180 Mark. Mehr als Übernachtung mit Frühstück und die Pflege der sieben Zimmer können die Angestellten zur Zeit nicht leisten, zumal die Jugendlichen nur halbe Tage arbeiten. Das Publikum ist international, viele kommen auf Empfehlung. „Leider waren behinderte Menschen bisher in der Minderheit“, bedauert Arezki Krim.

„Die Freundlichkeit ist nicht nur Geschäft“

Hervé Gourdin aus Paris ist schon mehrere Tage hier zu Gast. Er ist sehr angetan von der familären Atmosphäre und dem warmherzigen Empfang: „Zwar ist nicht alles perfekt, aber die Freundlichkeit ist echt und nicht nur Geschäft“.

Ins Leben gerufen wurde das bundesweit einmalige Projekt von den Eltern der geistig behinderten Jugendlichen, die sich 1988 im Verein Werkstadthaus Hamburg zusammenschlossen. Vorsitzender Henning Born, dessen schwer behinderte Tochter Britta Mitglied der Wohngruppe ist, führt die Anfänge auf den gemeinsamen Besuch einer anthroprosophischen Schule für „Seelenpflege bedürftige Kinder“ zurück. „Wir wollten, daß diese gewachsene Gruppe zusammenbleibt, gemeinsam in einer 'normalen' Umwelt lebt und arbeitet, statt ihr Leben in einer anonymen Anstalt zu verbringen.“

Weil die Jugendlichen sich durch besondere Freundlichkeit auszeichnen, entschlossen sich die Eltern für einen Dienstleistungsbetrieb. Die Reaktionen der zuständigen Behörden, sagt Born, sei „geradezu enthusiastisch“ gewesen. „Die Idee ist so verrückt, das könnte etwas werden“, hieß es.

Das Gebäude wurde im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus errichtet, die behindertengerechte Ausstattung finanzierte der Verein aus eigenen Mitteln und Spenden. „Wir wollten etwas Hochwertiges, Ansprechendes bieten.“ erklärt Born. Er lächelt verschmitzt: „Über die Einrichtung hat meine Frau mit einem 'Geschmacksausschuß' von Freundinnen entschieden.“

Inzwischen sind Claudia und zwei weitere Mitarbeiter, Gunter und Jens eingetroffen. Während Clemens die Tische abdeckt und die Küche aufräumt, beginnen die drei mit der Reinigung der Zimmer. Zwei Gäste sind heute abgereist. Jens will frische Bettwäsche aus dem Schrank nehmen. Mit seinem Schlüssel probiert er mehrere der durchnummerierten Türen, findet aber nicht die richtige. „Kannst du mir helfen?“, wendet er sich schließlich an Arezki Krim, der gerade hinzu kommt. „Jens ist ein ganz lieber Kerl“, erklärt der Geschäftsführer, „am liebsten würde er nur Musik machen. Er spielt Klavier und Blockflöte, kann aber nicht ohne Begleitung Einkaufen oder U-Bahn fahren“.

Im nächsten Zimmer ist Claudia dabei, die Betten aufzuschütteln. Gunter steht ein bißchen ratlos herum, den Kopf gesenkt, die Hände über der Brust gefaltet. Er ist sehr schüchtern und spricht selten. „Komm, Gunter“, sagt Claudia freundlich, „wir machen das nächste Bett, ich helfe dir“.

„Es dauert eben manches etwas länger“

Jens macht das Bad sauber. Er trägt einen schwarzen Anzug und Krawatte, an den Händen knallrote Gummihandschuhe. Seine Schürze hat er vergessen. „Bei Herrn Jens muß man alles hinterher nachputzen“, kritisiert die sonst immer freundliche Claudia. Spiegel und Waschbecken sind voller Streifen und Fusseln. Arezki Krim befindet, daß der Lappen zu feucht ist. Danach ist die Toilette dran. „Welche Farbe?“, fragt Krim. Jeder Bereich hat der Hygiene wegen seine eigene. Jens fuchtelt mit dem gelben Lappen vor dem Gesicht des Hoteliers herum, der ein wenig zurückzuckt. „Na, mich sollst du nicht waschen!“, lacht er.

Anschließend feudelt Jens, einmal naß, einmal trocken. Wringt zwischendurch aus. Langsam und umständlich. Mitunter tropft Wasser daneben. „Puuh.“ Er ist müde. „Gut so?“. Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern blicken erwartungsvoll auf Claudia. „Ja, super. Hast du gut gemacht“, sagt sie. Jens lächelt.

Ein letzter Kontrollgang durch die Zimmer: Krim fragt seine Mitarbeiter, ob etwas falsch ist. Hier zupft er noch etwas zurecht, entfernt dort Staub und Fusseln. In einem guten Hotel muß einfach alles perfekt sein. In Zimmer 7 haben die Jugendlichen versehentlich die Handtücher ausgewechselt, obwohl die Gäste noch bleiben: „Wir bitten unsere Gäste, die mehrere Nächte bleiben, ihre Handtücher mehrmals zu benutzen. Das ist umweltfreundlicher“, steht auf einem Schildchen im Bad. Die Seifenstückchen für Zimmer 4 und 5 hat Gunter alle in ein Zimmer gelegt. Krim kennt die Schwächen seiner Mitarbeiter: „Es fällt ihnen schwer, mehrere Aufträge auf einmal zu erledigen“. Und er ist sehr geduldig: „Es dauert eben manches etwas länger“.

Sechs Pädagoginnen sind rund um die Uhr dabei

Der gebürtige Algerier, der schon in Paris und London gearbeitet hat, war vorher Abteilungsleiter des „Ramada Renaissance Hotel“ in Hamburg. Freunde hatten ihm diesen Posten vorgeschlagen. „Nachdem ich die Jugendlichen und ihre Eltern gründlich kennengelernt hatte, sagte ich zu.“ Mit Behinderten hatte er noch nie zuvor gearbeitet. „Ich bin stolz, als Erster so ein Hotel zu leiten. Das ist eine wirkliche Aufgabe.“ – „Wo ist Jens?“ fragt er plötzlich. Jens ist schon hinauf in die Wäscherei gegangen, um zu mangeln. Das ist seine Lieblingsbeschäftigung. „Das soll er doch nicht allein!“. Krim hastet die Treppe hinauf. Jens steht an der Mangel, wird aber langsam müde. „Es ist Feierabend“, sagt Arezki Krim. „Morgen mache ich allein weiter“, freut sich Jens. In der Wohngruppe wird bereits der Mittagstisch gedeckt. Sechs Pädagoginnen wechseln sich hier rund um die Uhr ab. Ruth Schuster, eine der Betreuerinnen, begrüßt mit der schwer behinderten Lena an der Hand den Geschäftsführer. Lena hat ein Geschenk für ihn. Sie kann nicht sprechen und nur mühsam allein gehen. Krim ist gerührt: „Vielen Dank, Lena“. Er streicht ihr über den Rücken. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.

In der Gruppe lebt auch Britta, die Tochter von Henning Born. Für die beiden schwer behinderten Mädchen gibt es extra einen Therapie- und Arbeitsraum. Die insgesamt acht Jugendlichen haben jeweils ihr eigenes, liebevoll eingerichtetes Zimmer.

„In diesem geschützten Rahmen können die Jugendlichen, unabhängig vom Elternhaus, selbst Dinge ausprobieren“, erklärt Ruth Schuster. Einmal wöchentlich gehen die Jugendlichen, deren Gehalt drei Jahre lang zu zwei Dritteln vom Arbeitsamt bezuschußt wird, zur Berufsschule, ansonsten stehen nachmittags viele private Termine an: Mirco, der heute frei hat, ist Schauspieler in einer integrierten Theatergruppe des TIK. Der schüchterne Gunter kann ausgezeichnet rechnen und ist ein As im Fach Politik. Während er gut allein „draußen“ zurecht kommt, traut sich der so selbstbewußt wirkende Mirco nicht, allein Bahn zu fahren oder einzukaufen.

Auch Stress und Krisen bleiben nicht aus

„Jetzt merken die Jugendlichen zum ersten Mal, wie es ist, richtig zu arbeiten“, sagt Ruth Schuster. Da bleiben auch Krisen nicht aus. Mirco erzählt – ganz der Schauspieler – wie er schon einmal total entnervt raufkam, weil ihm der Stress im Hotel zuviel wurde: „Jens hatte einen Schlüssel verloren und Herr Krim hat mich angemacht. Da habe ich mich erstmal bei Ruth ausgeheult“.

Henning Born, der Vorsitzende des Vereins, ist mit seinem Ideenreichtum noch nicht am Ende. Er wünscht sich, ein freies Zimmer in der Jugendwohnung an einen künstlerisch begabten Menschen zu vermieten, der noch nie mit Behinderten zu tun hatte. „Ich denke da an einen Stadtschreiber, wie es ihn früher gab“, lächelt er. „Vielleicht kann er uns kreative Anregungen geben, was wir zusammen mit den schwer behinderten Mädchen noch herstellen könnten“.

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