: „Geschichten hat es nie gegeben“
Über eine Retrospektive der Filme des französischen Avantgardisten Jean Epstein im Arsenal ■ Von Anke Leweke
Als Jean Epstein 1914 seinen ersten Chaplin-Film sah, wurde der Siebzehnjährige von Lachkrämpfen so geschüttelt, daß er sich einen Zahn am Nachbarsessel ausschlug. Nach dem Abitur zog Epstein nach Lyon in die Geburtsstadt des Kinos, wo er für Auguste Lumière als Sekretär arbeitete. Zwar hatte dieser mit seinem Bruder vor einem Vierteljahrhundert den Kinematographen erfunden, dennoch hielt Lumière das neue Medium nur für eine „vorübergehende Verstopfung, die bald wieder vorbeigeht“, wie er seinem jungen Kollegen verriet.
Bevor Epstein selbst zur Kamera griff, ließ er sich in Gedichten und Prosatexten über die Filmkunst aus. 1923 erschien sein futuristisch aufgemachtes Buch „Bonjour cinéma“. Nach dem Ersten Weltkrieg schloß sich in Frankreich eine Gruppe junger Filmemacher zusammen, die dem kommerziellen Kino angewidert den Rücken kehrte. Vom verfilmten Theater, das bislang das französische Kino beherrschte, wollten sie nichts wissen und begaben sich auf die Suche nach einer streng formalisierten Ästhetik. Sie versuchten, zu den Grenzen der Filmsprache vorzustoßen, der Begriff des „spezifisch Filmischen“ machte die Runde.
Von dieser „ersten Avantgarde“ des französischen Films, der Epstein neben Abel Gance, Maurice L'Herbier, Germaine Dulac und Louis Delluc selbst angehörte, forderte er, „daß sie das Objektiv verpflichteten, die Dinge nicht unter ihrem Standardaspekt, sondern im Licht einer persönlichen, psychologischen und poetischen Interpretation zu zeigen“. Zunächst befreiten die Avantgardisten die Kamera von ihrem starren Sockel, um die Distanz zu den Ereignissen und Personen zu brechen.
In „Coeur Fidèle“, seinem zweiten Film, verließ Epstein das sichere Dekor des Studios und begab sich ins Hafenviertel von Marseille. Erzählt wird die Geschichte eines Mädchens, das in einer schmuddeligen Spelunke arbeitet und zwei Männer liebt, einen Arbeiter und einen Gauner. Im Mittelpunkt steht eine ausgelassene Jahrmarktszene. Mitten ins Getümmel hält die Kamera und vergnügt sich mit fröhlichen Besuchern auf dem Karussell. „Warum Geschichten erzählen, Erzählungen, die immer geordnete Ereignisse vorgeben, eine Chronologie, die Steigerung der Tatsachen und Gefühle“, fragt sich Jean Epstein, „die Perspektiven sind ohnehin nur eine optische Täuschung. Es gibt keine Geschichten, es hat nie welche gegeben.“
Mit seiner aberwitzigen Montage scherte sich der Regisseur nie um die Chronologie der Ereignisse seiner Erzählung, Einschübe, Überblendungen, Wiederholungen und Verfremdungen unterwandern die Sukzessivität der Bilder zugunsten einer Ansammlung von Augenblicken, einer intensiver als der andere. Um ins Innere der Dinge und des Geschehens vorzustoßen und es auf die Leinwand zu bringen, griff Epstein tief in die Trickkiste des Mediums Film. In „La glace à trois faces“ (1927) verbindet der experimentierwillige Filmemacher sieben Geschichten zu einer filmischen Einheit; Zeitlupe und -raffer nutzt er zur Veranschaulichung innerer Vorgänge. „Drei Frauen lieben einen Mann. Aber liebt er sie?“ fragt der erste Zwischentitel. Am Ende kennt man die Lösung, der eitle Gockel sucht seine Freiheit, in einem kleinen Rennwagen gibt er sich dem Geschwindigkeitsrausch hin. Nur die Wolken vermögen den rasenden Fahrer einzuholen. In seiner Version vom „Untergang des Hauses Usher“ widmet sich Epstein ganz dem Innenleben der Geschichte und vernachlässigt den Inhalt der Ballade von Edgar Allan Poe zugunsten der beklemmenden Atmosphäre, die sich beim Lesen einstellt. In den hohen Hallen des Schlosses verliert man sich, die Gänge führen ins Nichts, Türen und Fenster öffnen sich wie von Geisterhand, und unsichtbare Hände greifen um sich.
Ende der zwanziger Jahre verzog sich Epstein in die Bretagne, wo er halbdokumentarische Spielfilme drehte. Während bei seinen avantgardistischen Kollegen letztendlich doch die formalen Aspekte im Vordergrund standen, verschrieb er sich dem Aufspüren von intensiven Momenten. Wie schon in „Coeur Fidèle“ verließ Epstein an der bretonischen Küste wieder das Studio und drehte im Freien. In „Le Tempestaire“ filmte er minutenlang das tosende Meer, ein verzweifeltes Mädchen sucht einen alten Weisen auf, der angeblich den Sturm zu bändigen vermag, ihr Freund ist auf hoher See. Am Ende zerspringt die magische Glaskugel des Zauberers, der Sturm hat sich gelegt, und der Freund ist in die Arme der Liebsten zurückgekehrt.
„Coeur Fidéle“: heute, 18 Uhr, „6 1/2 x 11“: am 11.1., 20 Uhr, „La Glace à trois faces“: 18.1., 20.30 Uhr, „La Chute de la Maison Usher“: 23.1., 20 Uhr, „Finis Terrae“: 20 Uhr, „Le Tempestaire“ und „L'Or des Mer“: 31.1., 20 Uhr, Arsenal, Welserstraße 25, Schöneberg.
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