: Erneut Bedenkliches
Wann immer die Frage nach dem Verbleib der Linken ihr raunendes Medusenhaupt erhebt, ziehen wir uns warm an und die russische Fellmütze tief über die Ohren: Nicht schlagen! rufen wir, Bitte nicht mehr weh tun! betteln noch die Geringsten unter uns. Aber es hilft nichts: erbarmungslos wird der Besen geschwungen, mit dem die Weltgeschichte ihre Keller sauberfegt, und ganz dort unten, im letzten Verlies hinter Waschküche und Speisekammer, kauern wir (mitten zwischen den Friedensbewegten, die Auschwitz erst möglich gemacht haben) im Dunkel und halten uns singend die feuchten Hände. Hin und wieder geht einer von uns nach oben, um zu sehen, ob das Gewitter nachgelassen hat, und wir sind im Geiste bei ihm. Wenn er wiederkommt – gezauselt, gebeutelt, hinkend und aus dem Munde stinkend –, röchelt er: „'s hat keinen Zweck, Genossen! Sie toben noch.“ Wenn er nicht wiederkommt, dann wissen wir erst recht, was das Stündlein geschlagen hat. Unser Genosse S., der alte Parteisekretär, holt sein schwarzes Inventurbüchlein heraus und schreibt den Namen unter die immer länger werdende Liste: Schneider. Enzensberger. Walser. Hartung. Stephan. Biermann. Widmann. Röhl. Ach, die Gerechten werden weniger!
Nun erhielten wir Zuspruch von unerwarteter Seite. Einer der unsrigen, der leicht lädiert zurückkam, brachte frohe Kunde von der Süddeutschen Zeitung: Dort habe der Leiter des Zentralfeuilletons, ein aufrechter Mann namens Dr. J. Wilms-Busche, uns nachdrücklich aufgefordert, das Rattenloch zu verlassen. Er beklage unser Verschwinden und frage gar, ob es uns je gegeben hätte. „Die Linken von ehedem, so der allgemeine Eindruck, schweigen, und wenn sie nicht schweigen, so reden sie nicht mehr wie Linke.“ Unser Gewährsmann kratzte sich an der allzu hohen Stirn. Er habe, gab er zu, nicht ganz genau verstanden, worauf Wilms-Busche hinausgewollt habe: Renegaten-Geißelung? Hohn des Opportunismus? Klage über das Verschwinden eines Feindes? Aufruf zum Beginn einer dieser unaufhörlichen, doch gleichwohl unentbehrlichen „Debatten“ und „Diskurse“ über die Fragen „What's left?“, „What's right?“, „What shall's?“ Wir sahen uns lange an und losten dann einen aus, den Artikel wieder und wieder zu verlesen.
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