: Konservative Niederlage im Schulkrieg
Eine halbe Million Menschen demonstrierten gestern in Paris gegen ein Reformvorhaben der Regierung / Angst vor einem Erstarken des Einflusses der katholischen Kirche ■ Aus Paris Dorothea Hahn
Graf Alfred de Falloux hatte doch recht. Der napoleonische Politiker, der 1850 das Gesetz schrieb, wonach Privatschulen nur zu maximal zehn Prozent vom Staat finanziert werden dürfen, erlebt in diesen Tagen in Frankreich eine Renaissance. Eine halbe Million Menschen demonstrierten gestern in Paris für die laizistische Schule und gegen eine Reform des „Loi Falloux“. Wenige Tage zuvor – am Donnerstag der vergangenen Woche – hatte der Verfassungsrat bereits den entscheidenden Passus des Reformvorhabens gekippt: Wenn die Gemeinden frei entscheiden könnten, wieviel Geld sie den Privatschulen geben, wäre das Gleichheitsprinzip der Citoyens verletzt, stellten die „Neun Weisen“ im Palais Royal fest.
Rückzieher der Regierung
Regierungschef Edouard Balladur reagierte mit einem Rückzieher. Nach der Entscheidung des Verfassungsrates verkündete er, daß er keinen neuen Anlauf unternehmen werde, die umstrittene Privatschulfinanzierung per Gesetz zu ändern. Für die seit Wochen vorbereitete Demonstration war der ursprüngliche Anlaß damit weggefallen. Die 86 Organisationen – darunter die gesamte französische Linke, Gewerkschaften, Elternorganisationen und Schülergruppen – blieben dennoch bei ihrem Aufruf. Ihre Botschaft: Das öffentliche Schulwesen ist unantastbar; es gehört zu Frankreich wie die Revolution selbst, wie ihre Prinzipien von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und wie die Trennung von Staat und Kirche, die seit 1905 Gesetz ist.
Die katholische Kirche betreibt mit 95 Prozent entschieden die meisten privaten Schulen Frankreichs. Der Rest gehört anderen Religionsgemeinschaften und experimentellen Pädagogen, wie der Freinet-Gruppe. In manchen Gegenden Westfrankreichs ist das katholische Gymnasium die einzige weiterführende Schule weit und breit. Meist stehen jedoch staatliche Alternativen zur Auswahl. Rund 17 Prozent der französischen SchülerInnen besuchen private Schulen. Für eine katholische Schule sprechen nicht nur ideologische Motive, zunehmend beklagen Eltern auch überfüllte Schulklassen, mangelndes Unterrichtsmaterial, Lehrerknappheit und einen hohen Immigrantenanteil in staatlichen Schulen.
Paradoxerweise nahm die Regierung jedoch nicht die Situation der staatlichen Schulen, sondern die ebenfalls prekäre Finanzlage der privaten Etablissements als Anlaß für ihre bereits seit Monaten vorbereitete Reform. Dabei werden die Gehälter der Lehrer ohnehin vom Staat übernommen, wenn die Privatschulen einen entsprechenden Vertrag geschlossen haben, in dem sie sich bei den Lehrplänen zur Angleichung an die staatlichen Schulen verpfichten. Dies ist bei über 90 Prozent der Privatschulen der Fall.
Zahlreiche Gebäude seien verrottet, die Sicherheit der SchülerInnen könne nicht mehr garantiert werden und die Kirche könne nicht für die Renovierungskosten aufkommen, argumentierte Erziehungsminister François Bayrou. In einer Nachtabstimmung zog die stabile konservative Mehrheit im Parlament sein Reformvorhaben am 15. Dezember vergangenen Jahres durch. Bereits am nächsten Tag fanden im ganzen Land erste Protestkundgebungen statt: Ein neues Kapitel in dem im vergangenen Jahrhundert begonnenen französischen „Schulkrieg“ war eröffnet.
Die letzte große Schlacht im „Schulkrieg“ fand vor zehn Jahren statt. Damals standen die politischen Zeichen genau umgekehrt: Eine sozialistische Regierung wollte das Verhältnis zu den Privatschulen gesetzlich klären. Die Lobby der Privatschulen ging massenhaft auf die Straße und brachte das bereits in erster Lesung verabschiedete Gesetz zu Fall. Die Folgen: Der Erziehungsminister mußte zurücktreten und leitete damit das Ende der Regierung von Pierre Mauroy ein.
Die Laizisten bleiben skeptisch
Die jetzige Mobilisierung – bei der sich die im Parlament auf 28 Prozent geschrumpfte Sozialistische Partei stark engagiert hat – wird von vielen Franzosen als „Rache für 1984“ verstanden. Für den konservativen Regierungschef Balladur ändert das freilich nichts daran, daß er seine bislang härteste Niederlage erlitten hat. Der geschickte Politiker, dessen Sympathiekurve seit seinem Amtsantritt im März vergangenen Jahres stetig gestiegen war und der immer häufiger als konservativer Nachfolgekandidat für Staatspräsident François Mitterrand genannt wird, hat die Symbolkraft der laizistischen Schule unterschätzt.
Erst vor einer Woche – als sich der Erfolg der Demonstration abzuzeichnen begann – trat Balladur die Flucht nach vorn an: Er verkündete eine Finanzspritze von jährlich 500 Milliarden Franc für die öffentlichen Schulen und richtete eine Untersuchungskommission über das Schulwesen ein. Die Verteidiger des antiklerikalen Frankreich blieben skeptisch. Ihre Sorge: „Wenn wir nicht wachsam sind, fängt die katholische Kirche bald wieder an.“
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