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Was bedeutet „mehrheitsfähig“?

■ betr.: „Was sollen wir wollen“ (Die Bündnisgrünen vor der Entschei dung), taz vom 13.1.94

[...] Da träumt Joschka Fischer von einer rot-grünen Mehrheit im Bundestag als die Erfüllung seiner Wünsche und malt sich gleichzeitig das „Schreckensbild“ einer gescheiterten rot-grünen Reformpolitik aus, die ein „langfristiges Scheitern jeglicher Reformpolitik“ zur Folge hätte und aufgrund dessen in der BR Deutschland ein dramatischer Rechtsruck zu verzeichnen sein würde. Aber nein, die RetterInnen in der Not sind schon da und besinnen sich rechtzeitig auf das „neue Konzept“ der „mehrheitsfähigen Reformpolitik.

Interessant ist an diesem Punkt die Frage, was in diesem Zusammenhang der Begriff „mehrheitsfähig“ bedeutet. Joschka Fischer (J.F.) malt der geneigten LeserIn recht plastisch das Bild einer krisengeschüttelten Republik, mit einer nach „rechts wegrutschenden Gesellschaft“ aus. Nun der Begriff Gesellschaft ist [in Meyers Taschenlexikon] recht genau definiert: „(...) auf den Menschen bezogen meint die Gesellschaft die Menschheit schlechthin oder bestimmte begrenzte Teile davon (...).“

Gehen wir davon aus, daß J.F. den bestimmten Teil der Gesellschaft meint, welcher sich in den Grenzen der BR Deutschland befindet, so ist anzunehmen, daß sich die deutsche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit auf dem Weg in die rechte Ecke befindet. Daraus folgt dann, daß die Grünen mit ihrer zukünftigen „mehrheitsfähigen“ Politik gleich mit nach rechts wandern, weil sich dort schließlich die entsprechenden „Mehrheiten“ befinden. Schließlich heißt mehrheitsfähig irgendwie auch mainstream und der strömt offensichtlich gerade woandershin.

[...] Die Grünen sind fett geworden, in ihren Parteiämtern und schielen wie alle übrigen sogenannten Volksparteien nach wahrlich billigen Mehrheiten. Das was noch übrig ist an Fähigkeit auch (die Betonung liegt auf auch) zu träumen und sich Utopien auszumalen, wird nun vollends den Bach heruntergehen (mainstream, woll), wenn die Vorstellungen des J.F. sich durchsetzen sollten, was anzunehmen ist.

Nicht das ich es nicht für sinnvoll erachte „Finanzierbarkeit, Machbarkeit, ...“ mitzuberücksichtigen, aber wo kommen wir hin (die Gesellschaft sozusagen), wenn ehemalige Vordenker in Sachen Frauenpolitik, Ökologie... tatsächlich „knieweichen Programmverrat“ begehen und schon vor den kommenden Wahlen um die SPD als zukünftige Koalitionspartnerin herumschleimen, daß einen das kalte Kotzen kommt.

Es geht um Glaubwürdigkeit. Eine Glaubwürdigkeit, die sich nicht nur durch eine „mehrheitsfähige“ Politik kaufen läßt, sondern die auf ein gewisses Vertrauen aufbaut. Für mich (und auch andere) haben die Grünen beziehungsweise das, was von ihnen übrig ist, dieses Vertrauen verspielt. Vor „langer“ Zeit gab es bei den Grünen mal den Anspruch, auch kleinen, womöglich unpopulären Gruppen die Möglichkeit zu geben, sich selbst eine politische und öffentlichkeitswirksame Plattform aufzubauen, auch in „höheren“ PolitikerInnenkreisen. Kleine Gruppen, sogenannte „Minderheiten“, die von vornherein das Problem mit sich tragen eben nicht „mehrheitsfähig“ zu sein. Oder war es bislang möglich Lesben- und Schwulenarbeit als „mehrheitsfähig“ zu bezeichnen?

Mein Fazit aus der gesamten Entwicklung der Grünen in den letzten drei Jahren und diesem Kommentar ist: Diese Partei ist für mich nicht mehr wählbar. Melanie Schäpers, Mitglied

des Frauen- & Lesbenreferates

Uni Dortmund

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