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Die Zahl der Toten kennt noch keiner

900 Tage hatte die Wehrmacht versucht, Leningrad auszuhungern, gestern erinnerte sich die Stadt an das Ende der Blockade vor fünfzig Jahren. Doch das Ausmaß der Katastrophe ist bis heute Thema ideologischer Diskussionen.  ■ Von Konstantin Trifonov

Es muß nicht gerade einfach sein, als Deutscher unter Menschen zu sitzen, deren Verwandte und Freunde von Deutschen umgebracht wurden. Dies verstanden diejenigen Russen und Russinnen, die zusammen mit dem Deutschen Arno Klare vom „Verein für deutsch-russische Verständigung“ an einer Veranstaltung zum 50. Jahrestag der Aufhebung der 900tägigen Blockade Leningrads teilnahmen. „In Deutschland wurde über die Leningrader Blockade nach dem Krieg nicht oft gesprochen“, meint Klare. „Aber auch in Rußland wurde die Anzahl der Verhungerten bis in die allerjüngste Vergangenheit heruntergespielt, weil man die Menschen nicht gegen das bolschewistische System aufbringen wollte.

Eine Million zweihunderttausend Menschen sind nach den letzten Schätzungen in der belagerten Stadt durch Hunger und Bomben gestorben. Hitler hatte den Beschluß gefaßt, Leningrad dem Erdboden gleich zu machen. Der Fall Leningrads hätte den Weg nach Moskau eröffnet, und mit den Schiffen der in der Stadt stationierten baltischen Flotte hätte man die Seeblockade gegen England wesentlich verstärken können. Aber auch Stalin hatte einen unumstößlichen Beschluß gefaßt: Leningrad sollte unter keinen Umständen aufgegeben werden.

Die Beschlüsse der beiden Politiker forderte zuerst das Leben von Frauen, Kindern und alten Menschen – die in der Stadt zurückgebliebene Zivilbevölkerung. Besonders hart war der Winter 1941/42. Die Zahl der Toten war so hoch, daß es nicht mehr gelang, sie aus den Krankenhäusern, Leichenhallen und von den Straßen wegzubringen. An den Toren der Friedhöfe bildeten sich Wälle aus jeweils drei- bis viertausend Menschen. Doch Hunger und Tod hatten noch viel weitreichendere Folgen.

Pjotr Lidin, 71, erzählt, daß er bei seiner Rückkehr von der Front am Zaun eines Friedhofes einen Anschlag las, demzufolge jeder auf der Stelle erschossen werden sollte, den man beim „Ausgraben von Leichen zu Ernährungszwecken“ ertappte. Das war, so erinnert er sich, im November 1941. Die Brotration betrug damals pro Kopf 125 Gramm und allein die offiziellen Angaben verzeichneten 253 Fälle von Kannibalismus. Der Schriftsteller Oleg Nosow erinnert sich, daß ihn damals eine Frau zu sich in die Wohnung lockte, wo es nach gekochtem Fleisch roch. Angesichts der in der Wohnung verstreuten Kinderkleidungsstücke erkannte er plötzlich, daß sie Kinder geschlachtet hatte.

In jenem kritischen Winter nährten sich die Leute unter anderem von Kleister und Maschinenöl. Tag und Nacht arbeiteten die Bagger und Fließbänder zum Erdtransport auf den Friedhöfen, doch auch die von ihnen ausgehobenen 200 Meter langen Gräben waren in wenigen Tagen voll. In der kritischen Situation mußten auch die Brennöfen der Ziegelei zur Beseitigung der Leichen herhalten.

Zur gleichen Zeit konnte man auf den Märkten der Stadt gegen Gold und Wertsachen praktisch jedes beliebige Nahrungsmittel eintauschen, einschließlich Cognac, Kaviar und Milch. „Hätte ich damals gewußt, daß in der Kantine des Smolnyj (des Hauptquartiers der KPdSU-Elite) Brot und Zucker nicht rationiert waren, dann wäre ich wohl wahnsinnig geworden“, sagt Jeljena Petkinen, 73. Ihre Mutter und zwei Töchter überlebten den Hungerwinter nicht. Die Heuchelei der Machthaber ging soweit, daß ein Restaurant eröffnet wurde, in das man mit einem speziellen Partei-Passierschein eingelassen wurde. Exemplare dieses Dokumentes sind im Museum für die Geschichte der Stadt zu besichtigen.

Hitler rechnete damit, daß bis zum Frühjahr 1942 alle Einwohner der Stadt verhungert oder an Epidemien gestorben sein würden, letztere Hoffnung erfüllte sich allerdings nicht: „Die Schüler wurden mit einer Unzahl von Impfungen gequält“, erinnert sich Nadjeschda Demjanskaja, 60, an die Zeit unmittelbar vor dem Krieg. Andererseits führte der Hunger dazu, daß eine ganze Reihe von Krankheiten unter den Einwohnern sogar zurückgingen.

Angesichts der großen Mengen der in der Stadt gelagerten chemischen Waffen gaben die Deutschen ihre Pläne, das Wasser der Newa zu vergiften oder ihrerseits chemische Waffen einzusetzen, auf.

Der „Heroismus“ der Leningrader ist in der russischen Literatur und in Sachbüchern kanonisiert worden – es gibt über 400 Bücher zu diesem Thema. Die meisten erklären ihn ziemlich einfach: „Dank der Sorge der Partei und der Regierung...“ Stalin und alle ihm nachfolgenden Parteiführer hüteten eifersüchtig ihre Version von der Zahl der Opfer. 641.803 Tote wurden bei den Nürnberger Prozessen und auch später genannt. Sie verstanden, daß eine Vergrößerung der Maßstäbe der Katastrophe sich auf das Ansehen des Regimes negativ auswirken müßte. Den während der Blockade geführten sorgfältigen Statistiken und den Forschungen der Leningrader wissenschaftlichen Institute während der Blockade wurde Geheimhaltungsstatus zuerkannt. Um die Blockade-Statistiken zu verwischen, organisierte Stalin auch – dies ist jedenfalls eine der kursierenden Erklärungen – den „Leningrader Fall“: unmittelbar nach dem Krieg wurden Tausende von Gelehrten, Beamten und Partei-Funktionären Opfer politischer Verfolgung. Verurteilt wurde auch Sinaida Schnitnikowa, Direktorin des Büros für Sanitäre Statistik, deren Archive die Dynamik des Todes während der Tage und Wochen der Blockade auf das genaueste widerspiegeln.

Eine Analyse dieses Archives und auch der Akten des „Bechterew-Forschungsinstitutes“, in dem damals die psychischen Auswirkungen des Hungerns erforscht wurden, sagt mehr über die Prioritäten der Bolschewiki aus als die Lektüre der erwähnten 400 Bücher zusammengenommen. Deshalb auch ist bis heute die Hauptfrage nicht beantwortet: Wie sehen die moralischen und gesundheitlichen Folgen der Blockade aus, nicht nur für die Überlebenden, sondern auch für deren Kinder?

Im Januar 1994 besuchte eine Gruppe von Wissenschaftlern aus den USA Petersburg. Ihr Wunsch, während der Blockade gesammelte medizinische Daten zu registrieren, stieß bei den örtlichen Medizinern auf Verständnis, bei den „Blockade-Historikern“ jedoch auf Widerstand.

„Eine unserer Aufgaben erblicken wir darin, dem Westen zu vermitteln, daß dies ein einzigartiges Ereignis in der Geschichte der Menschheit ist. Keine einzige Großstadtkatastrophe ist derart sorgfältig dokumentiert worden wie diese“, sagte der Leiter der Delegation, Professor Robert Sprinkle. Seiner Ansicht nach könnte eine Analyse des Systems des „organisierten Chaos“ in Leningrad dazu beitragen, die Aufgabe der humanitärer Hilfe zum Beispiel in Somalia besser zu lösen.

Die humanitäre Zielsetzung nimmt jedoch der bekannte Blockade-Historiker Andrej Dseniskjewitsch Sprinkles Gruppe nicht ab. Die Amerikaner seien vielmehr darauf aus, die Fälle von tödlicher Erschöpfung durch Auszehrung während der Blockade mit ähnlichen Fällen in der Gegenwart logisch zu verbinden und „uns dadurch an unserer wundesten Stelle zu treffen“. Der Wissenschaftler verteidigt nicht nur seine Arbeit, sondern auch das schon nicht mehr existierende sowjetische System.

Die nun immer zahlreicheren Berichte über Unterernährung im Rußland der neunziger Jahre treffen natürlich gerade in einer Stadt, in der noch 500.000 „Blockadniki“ wohnen, die sich an den damaligen Horror erinnern, auf große Resonanz. Immer öfter kann man in St. Petersburg alte Menschen sehen, die das letzte Stadium der Bedürftigkeit erreicht haben. Den großen Hunger erleiden sie heute zum zweiten Mal. „Wie vielen Schocks man uns auch aussetzt, gewöhnen können wir uns nicht daran“, sagt Natalja Batygina, 76. „Mit uns hat zuerst Lenin seine Experimente gemacht, dann Stalin und Hitler während der Blockade, dann kamen die Repressalien und Lager, und jetzt haben sich diese Demokraten entschlossen, ihre Schocktherapie an uns auszuprobieren. Doch wir sind immer noch am Leben!“

Rußlands Präsident Jelzin und der St. Petersburger Oberbürgermeister Anatoli Sobtschak haben sich nun, 50 Jahre nach der Blockade, der „Blockadniki“ erinnert. In der letzte Woche sind alle, die schon während der Jahre 1941-44 in der Stadt lebten, durch einen Ukas des Präsidenten den „aktiven“ Teilnehmern des Zweiten Weltkrieges gleichgestellt worden.

Dies bringt für sie einige Vergünstigungen mit sich: eine höhere Pension, Zuschüsse zur Miete und beim Erwerb von Medikamenten, verbilligte Fahrkarten. Aus dem Stadtbudget bekommen jeder „Blockadnik“ und jede „Blockadniza“ 10.000 bis 15.000 Rubel. Ungeachtet dessen, daß man sich davon gerade zwei Kilogramm „besserer“ Wurst oder drei Flaschen Wodka kaufen kann, freuen sie sich – und die langen Schlangen von Menschen in abgeschabten Mänteln und in altmodischen Hüten bilden eines der Hauptmerkmale des feiertäglichen St. Petersburg.

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