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Eine gestohlene Jugend

■ Heute liest Robert Muller aus seinem autobiografischen Roman „Die Welt in jenem Sommer“

Erst kürzlich war seine Stimme im Rundfunk zu hören. Im Radio lief die Sendung „Fremdsein und Selbstsein. Emigration aus psychoanalytischer Sicht.“ Ihm gehört das erste Statement: „Es ist mir, als ich so ungefähr 50 war, klargeworden, vielleicht noch ein bißchen früher, daß ich ein geteilter Mensch bin, ein gespaltener Mensch. Die Identität, die ich gelebt habe, hat mit meiner richtigen Identität überhaupt nichts zu tun. Was ich bin, ist ein Flüchtlingskind. Das ist meine Identität.“

Robert Muller, ein Flüchtlingskind von 69 Jahren. Seine Vita ist schnell erzählt: Am 1. September 1925 als Sohn einer jüdischen Mutter und eines nicht-jüdischen Vaters in Hamburg geboren, besuchte er von 1935-1937 die Oberrealschule Eppendorf. 1937 emigrierte er mit den Eltern nach Wien. Nach dem Anschluß Österreichs flieht er allein mit einem Kindertransport nach England, seine Eltern folgen ihm 1939.

1945 arbeitete Robert Muller als Redakteur für die US-Information Service in Paris, München und Hamburg. Für die deutsche Zeitschrift Heute ist er bis 1950 als London-Korrespondent tätig. Seit 1957 schreibt er als freier Mitarbeiter für die Daily-Mail, vor allem als Theaterkritiker. Er ist Schriftsteller, Dramaturg, verfaßt Drehbücher für Filme (so für Peter Zadek und Peter Lilienthal) und fürs Fernsehen (z.B. Exil von Lion Feuchtwanger). Robert Muller lebt heute in England.

Ein Flüchtlingskind, ein produktives zudem! Ja und, was noch? Nun, so einfach ist das nicht. „Viele meiner Freunde sind wie ich Flüchtlingskinder und leben als Engländer. Und viele kommen erst jetzt dazu, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Wenn ich so zurückdenke..., waren wir Engländer. Und haben in dem glücklichen Gefühl gelebt, daß wir Engländer waren. Das ist natürlich der reinste Unfug. Ich habe in der englischen Sprache gearbeitet. Aber ich bin niemals in meinem Leben ein Engländer geworden.“ Robert Muller hat sich mit dem Thema auseinandergesetzt, immer wieder, vor allem aber in seinem 1959 geschriebenen Roman The World That Summer. Ein Jahr später erschien das Buch unter dem Titel Die Welt in jenem Sommer auch auf dem deutschen Markt, allerdings wurde es zu jener Zeit wenig beachtet.

Die Welt in jenem Sommer - das meint Deutschland im Olympiajahr 1936. Der Hamburger „Jung“ Hannes Hacker, Gymnasiast, Mitglied im Jungvolk - und Halbjude, ist einer von vielen, die das sportliche Ereignis mit Neugierde und Begeisterung verfolgen. Der zackige Pimpf nach außen, im Innern die Furcht, daß seine „Kameraden“ seine nicht-arische Herkunft entdecken könnten. Das Mißtrauen wächst. Auch die Nachbarn stecken schon die Köpfe zusammen: der arbeitslose Vater und Hannes' Schwester wurden von der Gestapo zum Verhör abgeholt. Die Geborgenheit der Familie ist längst zerstört. Auch sonst ist schon lange nicht mehr alles in Ordnung in diesem Sommer 1936. Ein Roman, der beklemmende Einblicke in den wahrhaft alltäglichen Nationalsozialismus gewährt.

20 Jahre nach seinem Erscheinen wurde der Roman, der deutlich autobiographische Bezüge aufweist, für das Fernsehen verfilmt. Das Buch, das lange Zeit vergriffen war, ist in einer vom Autor überarbeiteten Fassung 1993 neu aufgelegt worden.

Robert Muller hängt an seiner Heimatstadt, er tituliert sich selbst als einen in „Hamburg verliebten Hamburg-Hasser“. Er bekennt, „Hamburger Luft wie eine Art Lebenselexier“ zu brauchen. Er ist neidisch, wenn er bei seinen regelmäßigen Besuchen in Hamburg Worte wie „neulich“ oder „übernächstes“ Wochenende aufschnappt. „Diesen Neid kann nur jemand nachvollziehen, den man seiner Heimat beraubt hat, dessen Kindheit zerrissen wurde, der den größten Teil seines Lebens und seiner Arbeit damit verbracht hat, eine gestohlenen Jugend wiederzufinden.“

Wilfried Weinke

Kammerspiele, 19.30 Uhr, sowie am 16. Februar, Zentralbibliothek, Große Bleichen 27, 19.30 Uhr

Robert Muller, Die Welt in jenem Sommer, Scherz Verlag, 278 S., 38 DM

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