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Immer mehr Kinder verbringen die Nacht in aufgebrochenen Autos, Treppenhäusern oder schmierigen Hotels. Tagsüber hängen sie in Kaufhäusern rum, aber die meiste Zeit geht bei der Suche nach einem Schlafplatz drauf. Wenn die erfolglos verläuft, machen die jungen Obdachlosen die Nacht in Discos durch oder lümmeln sich in die Wartesessel auf den Flughäfen. Berlin ist für die Trebegänger eine Art Traumziel: In der Anonymität der großen Stadt läßt es sich gut untertauchen und ans schnelle Geld kommen. Ala R. aus Istanbul ist 17 Jahre alt und hat lange Zeit in Frankfurt am Main gewohnt. Seit zwei Jahren lebt sie in Berlin. Auf der Straße oder, selten, in winzigen Zimmern. Aufgezeichnet hat das Gespräch mit Ayla Thorsten Schmitz

„Ich mach' meine eigenen Gesetze“

Ich bin auf der Straße aufgewachsen. Alle kennen mich. Nur die Neuen kennen mich nicht, und ich kenn' die auch net. Erst bin ich abgehauen, und dann bin ich von meinen Eltern rausgeschmissen worden. Ich hab' Geschäfte gemacht. Alles mögliche hab' ich verkauft: Klamotten, Gold. Später haben das meine Eltern erfahren, daß ich geklaut hab' wie blöd. Dann war ich im Frauengefängnis. Da war ich mit 16. Ich bin nie wieder nach Hause zurückgekommen. Danach bin ich nach Berlin, weil, hier hab' ich Leute gekannt.

Mit dem Taxi bin ich immer in die Schule gefahren

Durch einen Kumpel hab' ich eine Art Zimmer in Kreuzberg gefunden. Ohne irgend was. Da wohnen viele von mir. Sechs Mädchen und zwei Hunde in einem großen Zimmer. Die Mädchen in meinem Zimmer sind erst 13 oder 14. Ich bin 17 und denk' mir, du kannst die doch nicht auf der Straße lassen. Wir sind immer unterwegs. Disco und so. In die Schule bin ich auch gegangen. Manchmal bin ich öfter zu spät gewesen, deswegen hab' ich die Schule auch aufgegeben. Wenn ich trotzdem mal zur Schule bin, bin ich morgens aufgestanden. War ich zu spät, bin ich mit dem Taxi hin; ich durfte ja nicht zu spät kommen. Nach der Schule bin ich zum Zoo oder nach Kreuzberg. Da sind alle. Aber viele sind runtergekommen, weil: Die Drogen beherrschen die. Man muß die Drogen beherrschen, nicht die Drogen dich. Man kann die Drogen beherrschen. Ich hab' sie beherrscht und beherrsch' sie immer noch. Koks, Hasch. Aber Heroin nehm' ich keins mehr.

Meine Eltern wollten schon, daß ich wieder zu Hause leb', aber ich wollte net. Anfangs waren sie immer ekelhaft, danach wurden sie ganz nett und haben Essen gemacht, „komm doch wieder nach Hause“ und so. Aber kaum war ich einen Tag bei denen, haben sie wieder angefangen. Hab' ich keinen Bock drauf gehabt. Deswegen bin ich auch nach Berlin, weit weg.

Meine Mutter ist streng, mein Vater ist cool. Mein Vater hat mich immer rausgelassen, wenn meine Mutter weg war. Mein Vater ist Dolmetscher, meine Mutter ist daheim. Ich hab' noch eine Schwester, die ist 30 oder so.

Ich bereu' das nicht, ehrlich net, daß ich auf der Straße bin. Ich würd' das nie bereuen, das hab' ich immer gesagt. Viele meinen: Wenn du verheiratet bist, denkst du anders. Das stimmt nicht. Viel hab' ich dort gelernt: mit anderen zusammensein. Da schauen sie einen net so an: der sieht so aus oder so. Man hält zusammen. Aber jetzt ist es nicht mehr so. Sind alle total kaputt geworden.

Ich hab' Schmerzen, wenn ich auf Treppen penne

Die Drogen beherrschen mich eben nicht. Für Drogen würd' ich nie runterkommen. Wie mein Bruder zum Beispiel. Der würd' für Drogen sogar seine eigene Mutter verkaufen. Mein Bruder ist jetzt 16. Ich hab' meinem Bruder schon versucht zu helfen. Aber das will er net.

Der hat's immer gut gehabt, der hat's übertrieben. Ich versteh' ihn net. Meine Eltern haben ihm Geld gegeben, haben ihm geholfen, der durfte raus, alles. Aber wenn er Drogen nimmt, dann weiß er nicht, was er haben will. Er hat ein warmes Zuhause, kann gehen und kommen, wann er will. Er kann überall, auch bei meiner Schwester, pennen. Was will er? Er will auf der Straße pennen wie Dreck. Wegen den Drogen.

Hab' sogar schon in Treppenhäusern gepennt, auf den Steinen. Wie ich da liege? Einmal leg' ich mich so quer, einmal so rechts, einmal auf den Bauch, einmal auf den Rücken. Ich hab' immer Schmerzen. Es ist eiskalt, es ist Winter. Es hat geschneit. Ich hab' geflucht wegen der Schmerzen. Aufm Flughafen schlaf' ich auch manchmal. Das ist sogar viel schöner als hier in meinem Zimmer. Da liegst du so bequem, ich schwör's dir.

Meine Eltern sind keine richtig gläubigen Türken. Meine Mutter zieht zum Beispiel kein Kopftuch an. Meine Eltern haben was falsch gemacht. Die hätten mir früher, als Kind, keine Freiheit geben sollen, ich war schon dran gewöhnt. Und sobald ich älter wurde, durfte ich plötzlich nicht mehr raus. Ich durfte als Kind bis ein Uhr nachts raus. Als Kind darfst du ja normalerweise nicht so lange raus. Da war ich zehn, elf Jahre alt. Da haben die mich so lange rausgelassen, obwohl: Jeder mußte sich Sorgen machen. Ab einer bestimmten Uhrzeit mußt du ja ins Bett. Damals durfte ich so lange raus wie ich wollte, kommen, wann ich wollte. Und auf einmal wurde ich älter und durfte gar nix mehr.

Dabei gibt es Leute, die nach der Arbeit nach Hause kommen oder nach der Schule und trotzdem keine Jungfrauen sind. Ich kenn' viele, die jetzt verheiratet sind, und das waren keine Jungfrauen. Aber in der Hochzeitsnacht waren das „Jungfrauen“: Die haben einen Hahn geschnitten, das Blut genommen von dem, oder einem Hasen, und aufs Laken.

Bei der Polizei gibt es zwei Strafregister von mir

Ich find' das net schlimm, auf der Straße zu leben. Da gibt's Leute, die halten zueinander. Ich vergeß' meine Probleme, wo ich seh', wo die anderen die Probleme haben. Viele sagen zu mir, ich soll Sozialarbeiterin werden.

Jetzt hab' ich eine Bewährungsstrafe bis 1994. Wegen Raub, Körperverletzung, Diebstahl. Aber ich bin zum Glück nur bei Kleinigkeiten erwischt worden. Vor kurzem hab ich Scheiß gebaut, aber da wurde ich net erwischt. Ich hab' in Wedding eine Gaststätte überfallen. Ein Kumpel von mir hatte Freigang gehabt drei Tage lang, Urlaub vom Knast, der mußte dann wieder rein. Da hab' ich gemeint: „Komm, mach mit.“ Er: „Nee, ich bin auf Urlaub, wenn was passiert.“ Hab' ich gemeint: „Okay, ich mach's allein.“ Der Kumpel hat mir dann Tips gegeben und wollte im Auto warten. Hat dann aber Angst um mich gehabt und hat dann doch mitgemacht. Weil er wußte, daß ich auch allein da reingehe. Ich hatte auch eine Waffe dabei.

Die hatten die Gaststätte schon zugemacht, und ich klopf' da und sag': „Können Sie bitte noch mal aufmachen?“ Eine Frau machte auf, nur so ein Stück, ich bin rein, hab' die Tür aufgestoßen. „Überfall!“ hab' ich gesagt, und sie sagt: „Das Geld ist da, tut uns nix.“ Und was war in der Kasse? Zwei, drei Mille, sonst nix. Aber die hat Gold gehabt! Ringe, Klunker. Sag' ich: „Hier Alte, zieh mal das ganze Gold aus.“ Meint die: „Du kannst mich umbringen, aber du kriegst das Geld nicht.“ Hab' ich so ein Geschirrtuch genommen, hab' ich's ganze Kleingeld rein, und dann sind wir rausgegangen.

Umbringen wollte ich die nicht, hätte der bloß ein paar gegeben. Bei vielen Dingen bin ich nicht erwischt worden. Da auch nicht. Bei der Polizei hat jeder von meinen Freunden ein Register, ich hab' zwei Register. Ich hab' geklaut. Klamotten, Lederjacken. Nicht einzeln, sondern sofort mehrere. Einfach in den Laden rein, wie als ob das dein Laden wär: nimmst alles mit, gehst damit raus. Manchmal nehm' ich sogar einen Videorecorder untern Arm und lauf' damit raus. Die Magnetdinger kannst du einfach abmachen. Bei manchen ist nur Tinte drin, ist gar kein Alarm. Aber wenn du's net richtig abmachst, kommt Tinte auf die Klamotten. Ich hab' bald Verhandlung wegen so was.

Es gibt Leute, die müssen klauen: Die sind auf der Straße. Entweder die müssen anschaffen gehen oder einbrechen oder dealen. Man muß das machen. Okay, man muß net, kannst auch verrecken auf der Straße. Ich kenn' viele, die anschaffen gehen, die sind noch total jung. Die stehen am Bahnhof.

Für Drogen ficken die sich gegenseitig

Vielen kannst du net mehr helfen. Die sind schon dran gewöhnt, die wollen net mehr, das gefällt denen. Manchen kannst du helfen, indem zum Beispiel mehr Jugendhäuser aufgemacht werden. Jetzt ist es hart geworden. Für Drogen, für Geld ficken die sich gegenseitig, die beklauen sich. Drogen sind teuer geworden, findest kein gutes Zeug mehr. Ist gestreckt. Sogar Kumpels, die du kennst, geben dir gestrecktes Zeug. Erst geben sie dir pures Zeug, und dann geben sie dir Scheiße, weil dann merkst du's ja nicht mehr, wenn sie dich bescheißen.

Leben tu' ich von der Sozialhilfe, 700 Mark. Checken mit Drogen tu' ich nix mehr, aber vielleicht mal ein Portemonnaie ziehen, alles, was mir in die Quere kommt. Ich check' noch, aber ich will net, daß sich das rumspricht. Früher war ich Tag und Nacht unterwegs, manchmal hatte ich 5.000, 6.000 Mark in der Tasche. Und obwohl ich soviel Geld hatte, hab' ich nie was bezahlt. Nicht mal einkaufen, nicht mal Brötchen: So war ich. Manchmal brechen wir in einen Laden ein, nachts, und rippen dort Essen.

Früher war mir nix wichtig im Leben. Jetzt ist es wichtig, ein eigenes Heim, eigene Wohnung, und keiner hat zu bestimmen. Ich sag' immer: Ich mach' meine eigenen Gesetze. Einmal wurde ich eingebuchtet, da hab' ich zu den Bullen gesagt: Macht mal die Fenster auf und laßt Gerechtigkeit rein.

Für mich ist heute Hauptsache, jemand ist korrekt zu mir und hat ein gutes Herz. Egal, wer er ist. Gutes Herz ist, wenn jemand korrekt ist und daß er einen halt net linkt. Aber jetzt linkt jeder. Wenn ich denke, ein Kumpel von mir ist gestorben – er hat sich aufgehängt im Knast –, und einer meint: „Scheiße, daß der gestorben ist. Jetzt haben wir keinen, der uns Geld gibt, von dem wir was kriegen.“ Das war zu hart für mich.

„Die ganze Welt ist verrückt“, sag' ich immer

Ich wollte mich auch umbringen. Da war ich 16 und im Knast, drei Monate und drei Tage lang. Silvesternacht das erste Mal wollte ich das machen. Ich dachte nur, die sind alle in der Disco, ich guck' auf die Uhr, jede Sekunde. Im Knast haben sie mir nicht mal Schnürsenkel oder eine Tasche dagelassen, alles abgenommen. Ich bin ausgeflippt: die in der Disco und feiern, und ich sitze hier drinnen.

Ich wollte schon immer ein Kind haben. Ich hab' schon immer Kinder über alles geliebt. Ich wollte früher Kinder klauen. Die Mütter stellen einfach Kinderwagen draußen vor der Tür ab und gehen einkaufen. Ich würde mein Kind nie draußen abstellen. Damals hab' ich gesagt: „Hier, den nehm' ich jetzt mit, der sieht süß aus.“ Ich wollte den verstecken, in einem Keller oder so, es schön gemütlich machen wie ein Zimmer. Alle haben mich für verrückt gehalten. Hab' ich immer gemeint: „Die ganze Welt ist verrückt.“

Wenn mein Kind auf der Straße wär', würd' ich dem helfen, alles tun. Das Wichtigste ist net, daß du Klamotten kaufst oder so. Du mußt denen Liebe, Zuneigung, Verständnis geben, wie soll ich sagen.

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