piwik no script img

Eine Amerikanerin in Berlin

Thelma und Louise leben. Damit meine ich nicht, sie hätten ihr Auto gar nicht in den Grand Canyon gefahren — womit klar wurde, daß die „neue Frau“ nicht ohne Strafe bleiben kann. Nein, ich meine, daß die Phantasie, die in „Thelma und Louise“ zutage trat, in Tonie Marshalls „Pas Très Catholique“ („Leicht verdächtig“) wiederaufersteht.

Die französische Schauspielerin Anemone spielt eine Frau, die vor 18 Jahren ihre Ehe und ihren Sohn verließ, um Privatdetektivin zu werden. Sie ist so sehr beschäftigt mit dem Fotografieren von Ehebrechern (Ich hätte gar nicht gedacht, daß das in Frankreich jemanden stört) und ihren eigenen Affairen, daß sie gar keine Zeit hat, sich um die Regeln des traditionellen weiblichen Verhaltenskodex zu kümmern.

Bei ihrer Arbeit entdeckt sie Beweise für die kriminellen, möglicherweise mörderischen Geschäftspraktiken ihres Ex-Mannes und muß sich damit auseinandersetzen, wie sich seine mögliche Verurteilung für ihren Sohn auswirken würde, dem sie niemals eine Mutter war. Ihr Problem liegt weniger darin, ihren ehemaligen Mann der Gerechtigkeit zuzuführen, als vielmehr ihr moralisches Dilemma zu lösen, ohne in die traditionellen Frauenrollen schlüpfen zu müssen — wobei die Mutterrolle am schlimmsten versklavt. Die Aufgabe des Filmemachers besteht darin, dem Publikum verständlich zu machen, daß für diese Frau die Mutterrolle tatsächlich versklavend ist, ohne das Publikum gegen sie aufzubringen.

Aber mit „Kramer gegen Kramer“ hat das nichts zu tun. Der Ton ist nicht sozialkritisch, sondern voller Schwung. Dafür verdienen Marshall und Anemone ein Sonderlob. Selbst das sentimentalitätsträchtige Thema Altern behandeln sie mit viel Ironie.

Wenn Leser glauben, das Thema des Films sei ein alter Hut, dann habe ich für sie etwas aus der Pressekonferenz in petto. Ein Mann teilte dem Regisseur mit, wie sehr er Frauen für ihre Fähigkeit bewundere, ganztags zu arbeiten und trotzdem noch Zeit für die Hausarbeit zu finden. Müsse die Hauptfigur denn wirklich unbedingt so schlampig sein? Solch erleuchtete Gedanken verdienen zur Strafe ein Jahr meiner Hausarbeit zuzüglich täglicher Vorführung von „Jeanne Dielmann“.

*

Amos Gitais „Dans la vallee de la Wupper“ („Im Tal der Wupper“) ist ein bißchen wie Sex: Sollen wir es einfach tun oder müssen wir auch noch darüber reden? Es ist ein Dokumentarfilm darüber, wie Wuppertal auf den Totschlag eines Rentners durch zwei Skinheads reagierte. Der Film ist sorgsam um Ehrlichkeit bemüht; Gitai macht die Begleitumstände seiner Interviews deutlich und löst so das ewige Problem der Dokumentarfilmer: die Auswirkung der laufenden Kamera in Rechnung zu stellen. Aber gegen Ende des Films haben die Zuschauer wenig über die Interviewten, die Skinheads und das Opfer erfahren, das sich aus irgendeinem Grunde seinen Angreifern gegenüber als Halbjude ausgab.

Weniger legitim ist die Art, wie Gitai Menschen auf der Straße nach ihrer Meinung zu einem Ereignis befragte, das ein Jahr zurücklag. Die meisten wußten nicht, was sie sagen sollten — eine Verwirrung, die vermutlich weniger mit neonazistischen Sympathien zu tun haben dürfte als mit Überraschung angesichts der laufenden Kamera. Immerhin ein guter Anfang, wenn Gitai nur tiefer graben würde. Was halten Freunde und Verwandte der Angeklagten von ihnen; wieviele Skinheads gibt es in der Stadt, wie sind sie organisiert; was glaubten die Jugendlichen zu tun, als sie den Mann zusammenschlugen, wie repräsentativ sind ihre Überzeugungen?

Den Schimmer einer Antwort bietet die stärkste Szene des Films, in der Gitai eine Gruppe Teenager interviewt, die auf der Straße herumhängen. Sie wünschen niemandem Böses, erklären sie, sie wollen sich nur gegen die Ausländer verteidigen, die sie herumstoßen und sich an ihre Freundinnen heranmachen. Das ist die klassische Umkehrung von Opfer und Verfolger, aus der Gewalt legitimiert und vielleicht vorbereitet wird. Sind diese Jugendlichen Neo-Nazis? Ganz sicherlich nicht. Aber in der richtigen Situation könnten sie ganz kräftig zurückstoßen, und ihr Alibi ist ehrenhaft und bequem.

Selbst hier jedoch versagt uns Gitai die grundlegenden Informationen über diese Jugendlichen (Gehen sie zur Schule? Gehören sie zu politischen oder sozialen Gruppen? Wie heißen sie?). Ich hatte das Gefühl, er wollte eine journalistische Herangehensweise vermeiden, um seine Zuschauer nicht mit bekannten Informationen zu langweilen oder sie mit Didaktik zu beleidigen. Es geht aber nicht darum, die Zuschauer zu beleidigen, indem man ihnen sagt, was sie denken sollen, sondern ihnen das Material zum Nachdenken zu liefern. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen