Unternehmen Olympiatoppen

Die wohlgeplante Auferstehung des norwegischen Sports / Eisschnelläufer Johann Olav Koss holte das erste Gold für die Gastgeber  ■ Aus Lillehammer Cornelia Heim

Dialektik ist ein Stück deutscher Geistesgeschichte, die gelegentlich auch im Sport hell aufblitzt: „Die Zeit des Medaillenzählens ist vorbei, lassen sie uns positiv denken und schreiben“, sagte Peter Holz, Direktor des Bundesausschusses Leistungssport (BAL) im Deutschen Haus in Lillehammer. Zwei Minuten später betonte sein Nebensitzer Klaus Kotter, der Präsident des Deutschen Bob- und Schlittensport-Verbandes und wie Holz Mitglied der deutschen Delegationsleitung: „Es würde uns schon arg treffen, würden wir nicht ein paar Medaillen machen.“ Die deutsche Funktionärs-Sportrhetorik übt sich im Spagat zwischen These und Antithese.

Es gibt auch Beispiele, wo sich die Synthese andeutet. In Norwegen, dem Mutterland des Wintersports, wirkt beides ergänzend zusammen: Einmal die Begeisterung am Sport. „Hier sind alle sportverrückt“, sagt nicht nur Langläufer John Aalberg, gebürtiger Norweger und naturalisierter US-Amerikaner. Fast die Hälfte der Bevölkerung (1,6 Millionen) ist in einem der 45 Sportverbände organisiert. Zum anderen das akribische Aufrechnen olympischen Edelmetalls. Nach fünf Wettkämpfen haben die Nachfahren der Wikinger fünf Medaillen erobert.

Was das in diesem Land bedeutet, ließ sich im Wikingerschiff, der Eisschnellaufhalle in Hamar, nachvollziehen, als Johann Olav Koss über 5.000 Meter Weltrekord lief und die Goldmedaille vor einem anderen Norweger, Kjell Storelid, und dem Niederländer Rintje Ritsma gewann. Der Reporter des norwegischen Fernsehens weinte in der Schlußphase des Laufes von Koss vor Rührung bitterlich, die 11.000 Fans in der Halle tobten in einem rot-blauen Fahnenmeer. Gleich mehrere Musikkapellen bliesen zusätzlich Stimmung unters Volk, das sich um so mehr am Erfolg delektierte, als es Durststrecken gegeben hat, in denen Sportidole wie weiland Stein Eriksen (erste Medaille in einem alpinen Wettbewerb 1952 im Riesenslalom) oder Sonja Henie (von 1928 bis 1936 dreimal Gold im Eiskunstlauf) Mangelware waren.

Die Talsohle auf der Kurve hinab in die sportliche Bedeutungslosigkeit war 1988 in Calgary erreicht, als die sportliche Welt- Metropole erfahren mußte, daß sie zum Provinzstädtchen geschrumpft war: Gold gab's nur im Curling, und das stand lediglich als Demonstrations-Wettbewerb auf dem Programm. Ein halbes Jahr später bekam Lillehammer die Winterspiele zugesprochen, was die Sportfans in sportlicher Ekstase und die Erfolgsschmiede unter dem Erwartungsdruck („Was, wenn wir im eigenen Land ohne Gold abschneiden?“) erschauern ließ.

Norwegen rüstete auf. „Das Norwegische Olympische Komitee (NOC) nahm die Zügel in die Hand. Auf einmal war viel mehr Geld für den Sport vorhanden“, erzählt Robert Gjerde, Redakteur der Agentur „Norsk Telegrambya“. Das, was 1985 als „Projekt 88“ begonnen und so kläglich fehlgeschlagen war, wurde 1988 als „Olympiatoppen“ professionalisiert. Die sportliche Auferstehung nahm ihren Lauf.

Das Unternehmen Gold war nicht nur den Sportverbänden, sondern neben Staat und Steuerzahlern auch zwölf Firmen einiges wert. Etwa 160 Millionen Mark steckten Sponsoren von der SAS (Langlauf und Skispringer Espen Bredesen) bis zu einer Schiffsagentur (Alpines Ski-Team) in die potentiellen Goldkinder der Nation. Finn Aamodt, Trainer und Vater von Kjetil-Andre Aamodt, dem Silbermedaillengewinner der Abfahrt: „Auf einmal war Geld gar kein Thema. Wollten wir nach Neuseeland und es gab Einwände, ließen wir nur das Stichwort Lillehammer fallen, und schon war alles geritzt.“ In der Not frißt der Teufel Fliegen.

Und der Napoleon-Komplex des kleinen Landes verstärkte die Anstrengungen. 1992 schloß Norwegen, das sich (das „bestgehütete Geheimnis“) in Lillehammer selbst lüften will, mit einem Rekordergebnis ab: 20 Medaillen, darunter neun goldene, zwei mehr als 1952. 40 Jahre hatte es gedauert, bis Norwegen sich selbst endlich übertreffen konnte. Was den Ehrgeizigen, die einmal Lunte gerochen hatten, immer noch nicht gut genug ist. Johann Olav Koss: „Wer stagniert, geht rückwärts.“ Björge Stensböl, der Top-Sports- Manager und Koordinator von „Olympiatoppen“: „In Albertville schnitten wir hinter Deutschland und den GUS-Staaten in der inoffiziellen Landes-Meisterschaft nur als Dritter ab. Zu Hause wollen wir ganz oben stehen.“

Gesagt, getan. „Olympiatoppen“ ist nicht nur die Geldquelle für rund 100 norwegische Top- Sportler. Es ist vor allem ein Kommunikationszentrum. „Man kann soviel von anderen Sportarten lernen“, beschreibt Audun Tjomsland, Pressesprecher des NOC, den zentralen Gedanken. So schauen sich im Trainingszentrum in Oslo die skatenden Langläufer von den artverwandten Eisschnelläufern die Bewegungsabläufe ab. Espen Bredesen nahm Fallschirm- Unterricht, und die Eisschnelläufer probten ihre zarten Waden im Pas de deux. Trainer und Funktionäre bleiben vom „interaktiven Lernen“ nicht verschont. Audun Tjomsland: „Warum sollen sich nur die Sportler laufend weiterbilden?“ 15 Wissenschaftler, Mediziner und Physiotherapeuten legen ihr Wissen zusammen, auf daß Oslo zur „modernsten Informationsbank in Sachen Sport“ (Tjomsland) heranwächst.

Gefördert wird aber nur, wer bereits Spitzenergebnisse (Platz sechs im Weltcup) vorweisen kann. Ziel ist „nicht die Aufzucht von Athleten nach dem rigiden östlichen System“ (Tjomsland). „Bei uns steht der Sportler als Mensch, der sein eigenes Leben eigenverantwortlich organisieren muß, im Vordergrund.“ Der nur scheinbar so natürliche Goldrausch.