: Eine Amerikanerin in Berlin
Zunächst dachte ich, mich hätte die Festival-Halbzeit-Erschöpfung erwischt — der Moment, in dem man aus verdunkelten Räumen und zwei Dimensionen flieht, um wieder Boden unter die Füße zu kriegen. Aber jetzt merke ich, daß alles viel schlimmer ist. Ich habe meine mid-life-Erschöpfung. Und erfahren mußte ich es auf die schlimmste aller möglichen Arten: ein Mann hat mich ignoriert.
In meinem Hotel wohnt ein gewisser europäischer Schauspieler, nach meinem Urteil einer der schönsten Männer der Welt. Als ich vor ein paar Jahren mit Freunden in einem Berliner Restaurant saß, hat mich dieser Mann stundenlang beobachtet, und als wir gingen, fing er mich an der Tür ab. „Hallo“, sagte er. „Ich bin... Und wer sind Sie?“ Ich fand darauf die eleganteste aller Antworten: Ich stotterte wie ein Schulmädchen und floh. Als ich ihn dieses Jahr im Frühstücksraum entdeckte, glaubte ich schon, Dionysos oder Herr Benzrat, der Leiter der Festival-Pressestelle, wolle mir eine zweite Chance geben. Manchmal lächelt uns das Leben. Er saß heute morgen an meinem Nebentisch. Ich zitterte vor Aufregung. Er schaute kaum auf. Ich bin am Boden zerstört. Ich werde mich rächen. Ein Kollege, der für ein deutsches Magazin eine Geschichte über schöne Männer schreibt, fragte mich nach meinen Kandidaten. Diesen hier streiche ich in aller Form von meiner Liste. Das wird er ja wohl merken.
Zur Verletzung gesellte sich eine Frechheit: als ein Fernsehteam durch das Pressecafé strich und Journalisten mit einem Mikrophon in Bananenform interviewte. Während sie sich meinem Tisch näherten, stimmte ich mich darauf ein, mich von phallischen Symbolen bedrängt zu fühlen. Ich würde sie darüber belehren, daß es sehr gewalttätig ist, wenn man ein bananenförmiges Objekt auf den Mund einer Frau richtet. Ich würde... sie an mir vorübergehen sehen, ohne mir auch nur die Chance zu der Frage zu lassen, ob das Ding denn wenigstens vibriert.
Und dann kam gestern die Festival-Ermüdung hinzu. Das ging so: Erst war da der kroatische Dokumentarfilm mit seinen dreieinhalb Stunden, den ich bis zum Schluß ansah und in dieser Kolumne beschrieben habe. Es folgten 336 Minuten „Jeanne la Pucelle“ von Jacques Rivette, wo ich nach zweieinhalb Stunden ging. Es war eine Abendvorstellung, ich hatte noch nichts gegessen, und eine Bauersfrau präsentierte der aus der Schlacht heimkehrenden Jeanne ein Kräuteromelette. Da war Rivette schlicht zu weit gegangen. Ich mußte los und mir selbst eins besorgen. Später erfuhr ich, daß Jeanne d' Arc ihr Omelette abgelehnt hatte. Natürlich. Sie wollte nicht riskieren, im Frühstücksraum zurückgewiesen zu werden. Nach dem Rivette kamen fast fünf Stunden des zweiteiligen Films von Alain Resnais: „Rauchen“ und „Nicht Rauchen“. Seit ich meine Bestürzung über die Nicht-Raucher-Ecke im Presse-Café zum Ausdruck brachte, ist diese Kolumne zu einer Sympathisantenecke für Raucher geworden — jedenfalls für europäische Raucher. Den Resnais-Film habe ich mir bewußt nicht angesehen — da gehe ich erst hin, wenn er einen dritten gemacht hat: „Kettenrauchen“.
Den Todesstoß erhielt meine Festival-Ausdauer durch die Flut von Geschichten über deutsche Tüchtigkeit, die mir die Leute erzählen zu müssen glauben, seitdem ich darüber geschrieben habe. Am schönsten finde ich die von dem Journalisten-Auto, das vor vier Jahren beim Filmfestival von Cannes gestohlen wurde. Der Journalist war ein Deutscher; er bekam eine ganze Menge Geld von seiner Versicherung und arbeitete dann in den USA. Vier Jahre später, in Los Angeles, rief ihn der Bundesgrenzschutz an: sie hatten sein Auto an der deutsch-österreichischen Grenze gefunden. Der Fahrer war ein Mann, der es rechtmäßig in Kroatien gekauft hatte; der Mann hatte die richtigen kroatischen Papiere, Nummernschilder und Quittungen. Aber die deutsche Polizei wußte, daß was faul war. (Ich versage mir hier alle Anspielungen auf das deutsche Sauberkeitsstreben und seine Methoden zur Entdeckung anrüchiger Gegenstände.) Der Journalist bekam sein Auto zurück. Ich fuhr darin in das ehemalige Ost-Berlin, wo ich mir meine Festival-Halbzeitpause nahm.
Mein Reiseführer dort, ein deutscher Freund, zeigte mir pflichtschuldig alle alten Gebäude und die vielen Veränderungen seit 1989. Aber nicht das hinterließ den tiefsten Eindruck bei mir. Ein echtes Zeichen des Fortschritts dagegen war die Kneipe mit Tex-Mex-Essen, die erste, die ich im Osten sah. Nichtraucher-Ecken können da auch nicht mehr lange auf sich warten lassen. Marcia Pally
Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning
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