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Vorbeischrammeln

Ein Collier „Rote Perlen“, dazu Krebs und Depressionen in China  ■ Von MAERZ

Aus verschiedenen Gründen ist es nicht ganz einfach, in China zur Ruhe zu kommen. Die Wirtschaft überschlägt sich. Die Schicksale hinter den Wachstumszahlen bleiben ebenso undeutlich wie die hinter den Verfallsdaten westlicher Industriestaaten. In den Küsten- und Südprovinzen Chinas gibt es Städte, die als Sonderwirschaftszonen in zehn Jahren von 200.000 auf über zwei Millionen Einwohner angewachsen sind. Es ist eine Revolution, und viele bleiben auf der Strecke.

Bei allem Pessimismus konnte Wu Zi-nius Wettbewerbsbeitrag „Der Rotfuchs“ dieser Orientierungslosigkeit einige ins Bittere spielende komödiantische Züge abgewinnen. Im Forum sind zwei Beiträge jüngerer chinesischer Regisseure zu sehen, Wang Xiaoshuais „Wintertage, Frühlingstage“ und He Yis „Rote Perlen“, die diese Entwicklung sehr viel radikaler beschreiben.

Die Atmosphäre der Depression, die über „Rote Perlen“ liegt, hat etwas Hypnotisches. Die innere Bedrängnis der Protagonisten überträgt sich auf den Zuschauer. Vielleicht wären auf He Yis Film schon Kategorien des phantastischen Kinos anwendbar.

In seinen finsteren Schwarzweiß-Tönen wirkt der Film wie ein Alptraum, oft sind die Darsteller in langen Einstellungen nur als bloße Schemen präsent. Aus dem Reich der Mitte treten sie nicht nur in den Hintergrund, sie scheinen sich aufzulösen in einem Reich der Schatten.

Wo früher der Eiserne Vorhang die Menschen trennte, tritt jetzt eine Generation junger Chinesen hinter einen psychischen Grauschleier, strauchelt in eine existentialistische Endzeit: Traumatisierung durch Beziehungslosigkeit, Begegnungen als Auffahrunfälle, lethargisches Aneinandervorbeischrammen im tonlosen Vakuum. Es gibt in der sozialistischen Marktwirtschaft inzwischen feinere Mittel als Panzer, um Unzufriedene ruhigzustellen: Man läßt sie in der Flut der Möglichkeiten und Bilder ertrinken. Ist es Gähnen? Ist es Schreien? Für eine Gesellschaft, wie He sie metaphorisch umschreibt, wird das bald keine große Rolle mehr spielen. Weißes Rauschen verschluckt scharfsinnige Analysen.

In „Rote Perlen“ versinkt ein junger Mann in einem billigen Restaurant in einen Tagtraum. Er sieht sich als Pfleger in einer psychiatrischen Anstalt. Dort betreut er eine junge Frau. Ihre angeblich schweren Depressionen scheinen tiefe Traurigkeit auszudrücken – jedenfalls nichts Krankhaftes. Für den behandelnden Arzt sind ihre Träume von roten Perlen Symptom eines wuchernden Seelenkrebses. Er will ihr die Perlen aus dem Kopf schneiden. Der Arzt kann die Folgen der Gehirnoperation nicht voraussagen. Nur so viel ist klar: Sie wird dann keine Mühe mehr haben, sich in die Gesellschaft einzufügen. Zwischen der mysteriösen Patientin und ihrem Pfleger entwickelt sich eine tiefe Liebesbeziehung. Er versteht sie. Jetzt träumt er von den roten Perlen. Der junge Mann erwacht.

Vor einigen Jahren hätte es in China für ein derart pessimistisches Bild der Gesellschaft noch lange Haftstrafen, vor kurzem mindestens Aufführungsverbot gegeben. Nach der sogenannten fünften Generation der Filmemacher, zu der Chen Kaige und Zhang Yimou zählen, formiert sich durch typische Underground- Filme nun eine sechste.

He Yis Film spielt im Machtzentrum Beijing. Dort ist es inzwischen wie im Süden, in Guangzhou, Shenzhen und Zhuhai, beinah schon unmöglich, auf Parteiversammlungen, die natürlich in erster Linie um Wirtschaftspläne kreisen, anders als in Maßanzügen und Benz-Limousinen zu erscheinen. Wenn nicht jede zweite Äußerung vom Piepen eines der vielen Funktelefone unterbrochen wird, ist das vorgeschriebene Stimmungshoch akut gefährdet.

Rote Perlen über China.

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