: Planungen des Scheiterns
Auch in der Vergangenheit durchkreuzten die Zentrifugalkräfte von historischen Prozessen Träume von einer repräsentativen Mitte ■ Von Rolf Lautenschläger
„Hauptstadt Berlin – Wohin mit der Mitte?“ scheint heute keine Frage mehr der politischen Tagesordnung. Architekten und Politiker können gleichermaßen auf fertige Pläne verweisen. Die Wettbewerbe für das Parlaments- und Regierungsviertel im Spreebogen sowie für den Reichstag sind entschieden. Die Entwürfe für die Ministerien auf der Spreeinsel gehen in die zweite Runde. Zwar hat man in den theoretischen Konzepten vom Bild einer zentralistischen Hauptstadt-Mitte, in der sich politische und ökonomische Macht konzentrieren, Abstand genommen. Doch die emotionalen und historischen Atlasten auf den neu zu besetzenden Feldern im Stadtgrundriß untergraben in den jetzt geplanten Hauptstadtbildern einen demokratischen Neuanfang. Die Pläne verweigern sich der Polyzentralität und dem Gedanken, die Regierungsbauten in das unordentliche Puzzle des Berliner Stadtgrundrisses einzupassen.
Wer meint, damit sei stadtplanerisch alles entschieden und nun würde nach Plan gebaut, dem sei die neue Publikation „Wohin mit der Mitte“ der Historischen Kommission zu Berlin empfohlen. Die Aufsatzsammlung hinterfragt die vermeintlich sinnstiftende Rückkehr ins Zentrum und die idealen Planungsträume, indem sie Seite für Seite die Chronik der großen Berliner Hauptstadtplanungen aufblättert. Das Fazit des von Helmut Engel, Landeskonservator in Berlin, und Wolfgang Ribbe, Historiker an der Freien Universität, herausgegebenen Bandes ernüchtert – mit Befriedigung: Standortbestimmungen und Entwürfe für Parlaments- und Regierungsbauten gehören in der Berliner Planungsgeschichte zu den Ablagerungen, die immer wieder neu aufgeschüttet werden. Der Bannkreis um die geplanten Regierungsviertel zieht sich darin wie ein Ring um die geographische und historisch- preußische Mitte, als brächte der zum Mythos geweitete Raum staatlicher Repräsentanz die meiste Planungssicherheit. Die Mitten werden somit auf dem Reißbrett gesucht, die Architekturen zu Kostümierungen einer Geschichte, die ihrem eigenen Schatten vergeblich zu entkommen sucht.
Der historische Prozeß indessen setzte die Machtzentren der nachrückenden Bauherren immer wieder zentrifugalen Kräfte aus. „Die Hauptstadt-Ideen wurden zerfasert“, schreibt Wolfgang Fischer. Die Staatsmacht dehnte sich in Berlin nach Westen aus, die Beamten bezogen vorhandene Palais, Herrenhäuser oder schlichte Bürogebäude. Realisiert wurden ein paar wenige Bauten, geblieben sind hauptsächlich Aushilfen, Improvisorien, Anbauten. Wohl kaum eine andere Metropole hat ihre Regierungsbauten so oft geplant und niemals verwirklicht wie Berlin. Keiner der großen Entwürfe, weder der für die Residenz des Großen Kurfürsten noch die vielen für die sozialistische Hauptstadt, konnte so umgesetzt werden, wie ihre Urheber es sich dachten. Sie blieben, was sie waren: Papier.
Die Planungen für das Forum Friderizianum im 18. Jahrhundert sind heute Museumsstücke, ebenso die megalomanen Entwürfe für die Reichshauptstadt „Germania“ Albert Speers. Die achsialen Nord-Süd-Blöcke „einer Architektur der Unterwerfung“, wie Wolfgang Schäche meint, bildeten den infamsten Versuch, ein neues Machtzentrum vor der historischen Stadtmitte zu errichten.
Geblieben ist bis dato einzig das Reichstagsgebäude. Selbst die mehrmals anvisierte „Umsetzung des Konzepts der Weltstadtcity in der Weimarer Republik ist aus ökonomischen und politischen Gründen fast völlig gescheitert“, stellt Harald Bodenschatz fest. Die Entwürfe zeugen letzlich von Fingerübungen, die in Visionen für Hochhausparlamente oder in die verkehrsgerechte Hauptstadt münden. Definitive Neuordnungen sollten nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs das Gesicht der Hauptstadt verwandeln. Während Hans Scharouns Kollektivplan 1946 nicht mehr auf historische Felder setzte, versuchte man in Ostberlin die geschichtlichen Spuren zu aktivieren. Aber auch dort endete der komplizierte Entstehungsprozeß der sozialistischen Metropole als „Planung des Scheiterns“, resumieren Bruno Flierl und Dorothea Tscheschner.
Die Suche nach der Mitte wurde dabei stets von dem Anspruch erschwert, neben dem politischen Schwerpunkt auch ein geistiges Zentrum zu finden, dessen Gestaltung der Ambivalenz der Geschichte Preußens und Deutschlands Rechnung trägt. Schade, daß die Autoren diesen ideologischen Aspekt zu wenig beleuchten und ihn für die heutige Debatte kaum aktualisieren. Der Frankfurter Historiker Lothar Gall verabschiedet am Ende des Bandes gar die Frage nach der Mitte: „Brauchen wir eine Mitte? Wir brauchen Vielfalt, Pluralität, Spielraum für heterogene Kräfte. Die zentripedalen Kräfte sind in unserer modernen Welt stark genug“.
Das Buch, das Beiträge eines gleichnamigen Symposions aus dem Jahr 1991 versammelt, ist heute, 1994, selbst schon Planungsgeschichte. Zwischen den Einsichten der Tagung und heute sind drei Jahre vergangen, die in ihrer Geschwindigkeit und der Vernichtung von Raum und Zeit maßlos erscheinen. Die Mitte Berlins ist aufgeschürft. Baugruben in der Friedrichstraße und entlang des Mauerstreifens sind ausgehoben. Die Gestaltung des Potsdamer Platzes nimmt Konturen an, im Stadtgrundriß entstanden neue Brachen. Die fertigen Planungen für den Hauptstadtumbau stehen zwar auf Papier. Doch die Wirklichkleit stellt sie täglich vom Kopf auf die Füße.
Helmut Engel, Wolfgang Ribbe (Hg.): „Hauptstadt Berlin – Wohin mit der Mitte?“. Akademie Verlag, Berlin 1993. 259 Seiten, mit vielen Abbildungen, 48 DM.
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