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■ Erziehung als Geheimformel für Nippons Erfolg?Japan ist anders

Nie traf Mark Twains Spott über die zielversessenen abendländischen Navigatoren besser als heute: „Wenn wir das Ziel aus den Augen verloren haben, verdoppeln wir unsere Anstrengung.“

„Made in Germany“, Weltmeistertitel der Industrieepoche, ist bereits entwertet. Kraft und Vision zum Aufbruch in nachindustrielle Zeiten scheinen zu schwinden. Eine Studie des Schweizer Bankvereins plaziert Deutschland technologisch nur noch auf Platz fünf und prognostiziert fürs Jahr 2005 Platz 18 unter 38 Industrieländern. Woher nur sollen Innovationsfähigkeit und die dringend benötigte visionäre Kraft kommen, fragen sich Standortpropagandisten aus der Politik und Kreativitätstrainer in der Wirtschaft. Erschöpft blicken sie nach Japan.

Wie lautet die Geheimformel des japanischen Erfolges? Welche Bildung initiiert ihn? Ist es disziplinierte Arbeit, oder zehrt die Firma Japan von verborgenen kulturellen Ressourcen? Diese Fragen stellten sich die verängstigten Amerikaner schon länger. Sie wollten wissen, mit welchen Schulen man Nummer 1 im Kampf um Standorte wird. Anders als man denkt, zeigen die Ergebnisse der US-Studien nach fast zehnjährigen, sehr gründlichen Forschungen.1

Kliniken eröffnen Stationen für schulkranke Kinder, Schülerselbstmorde beunruhigen die Öffentlichkeit, Neunjährige leiden an Magengeschwüren, Eltern schicken bereits Vorschulkinder zum Nachhilfeunterricht. Diese Horrormeldungen bestätigen uns, helfen sie doch unser Bild vom leistungsversessenen, sich zu Tode arbeitenden Japaner zu rahmen. Wenn wir nun erfahren, daß japanische Kinder im internationalen Leistungsvergleich an der Spitze stehen, dann montieren wir die neuen Meldungen flugs ins bekannte Bild und verbuchen sie als Lohn des Drills. Wir blicken in den japanischen Spiegel und sehen die Konturen unserer Kultur: die Fabrikgesellschaft. Doch Vorsicht: Japan hat mehrere Gesichter.

Japanische Schüler machen nicht nur in Standardleistungen die meisten Punkte, sie sind auch im „Problemlösungsverhalten“ besser. Noch erstaunlicher: Ihr Interesse am Leben ist stärker ausgeprägt als bei amerikanischen Schülern. Davon berichtet der Amerika-Japan-Vergleich, den Ronald Reagan und der damalige japanische Ministerpräsident Nakasone 1983 in Auftrag gegeben hatten. Ein interdisziplinäres Team hat in beiden Ländern den Schulalltag beobachtet, Leistungen verglichen und mit dem Blick des Ethnologen Einzelheiten erst bestaunt und dann analysiert.

Das Urteil der amerikanischen Kommission: Japanische Kinder bestechen durch unbeschwerte Neugier. Schon im Kindergarten üben sie sich in gegenseitiger Achtung. Erst werden die Kleinen in die Gruppenkultur eingeführt, später richtet man individuelle Leistungsansprüche an sie. Anders als vermutet, wird in japanischen Schulen nicht gepaukt. Um so wichtiger sind Alltagsrituale schon im Kindergarten: Schuhe wechseln, sich begrüßen, Rücksicht nehmen. Es kommt auf Achtsamkeit an, auf Respekt vor den anderen und vor den Dingen. Erst das „Wie“ und dann das „Was“ und zuletzt die Frage „Wieviel?“

In den ersten Schuljahren nimmt das formale schulische Lernen weniger Zeit in Anspruch als bei nordamerikanischen Kindern. In japanischen Grundschulklassen herrscht ein lautes und gutgelauntes Durcheinander. Die Klassen sind größer als in den USA, und dennoch greifen japanische Lehrer seltener disziplinierend ein. Der „Sensei“ – zu deutsch: Professor – im Kindergarten oder in der Grundschule wird nicht nur von den Kindern, sondern auch von der Gesellschaft geachtet. Überhaupt: Kindheit genießt in Japan höchste Anerkennung und Verehrung.

Jetzt verblüfft auch nicht mehr, daß die Japaner weder Noten noch Sitzenbleiben kennen. Ihnen sind kleine Dinge als Initiation in Verantwortung bedeutsam. Kinder putzen ihre Räume in der Schule selber. Die japanischen Kinder fragen, wie können wir etwas besser machen. Sie fragen nicht, wie kann ich besser sein. Die tägliche Reflexion der Abläufe, Hansei, übt Gegenseitigkeit. Später in den Betrieben werden Gruppenarbeit und die Suche nach Lösungen im Konsens, Kaizen, selbstverständlich sein, indessen bei uns Gruppenarbeit weder in der Schule noch später im Beruf so recht gelingen will.

In unserer Tradition liegt es nahe, andere ins schlechte Licht zu rücken, um selber besser dazustehen. „Wissen ist Macht“, heißt unser historischer Kompromiß zwischen Kapital und Sozialdemokratie. Dieser Wissensegoismus mag die Industriegesellschaft lange zu Höchstleistungen angetrieben haben. Inzwischen ist der autistische Spezialist das Schreckgespenst der Personalstrategen. Denn als Einzelkämpfer kann er das Tempo der Entwicklungen nicht mithalten. Gerade Spezialisten sind zur Kooperation gezwungen.

Daß japanische Kinder seltener Lob und Tadel der Erwachsenen zu hören bekommen, wertet besagte Studie als Zeichen für die größere Autonomie der Kinder. Sie bilden vielfältige Sensoren aus, um Resonanzen auf ihr Handeln zu spüren. Die Sache selber ist ein Instrument, auf dem Lebensmelodien gespielt werden, sie ist nicht bloß Mittel zum Zweck. Die Sache ist auch keine Prothese für das gedemütigte Kind, das sich mit Leistung rehabilitieren muß. Man lese in Adolf Muschgs Essay „Zeichenverschiebung“ (1991) über den Unterschied zwischen abendländischer Schuld und japanischer Scham.

Im Mathematikunterricht ermuntern japanische Lehrer dazu, viele Lösungswege zu finden. Die Art des Mathematikunterrichts erweist sich wieder mal als Geheimgrammatik für den kulturellen Code. Bei uns kommt es auf einen richtigen Weg und auf die einzige Lösung an: säkularer Monotheismus, Initiation ins Denken von Entweder-Oder. Kinder werden ermuntert, viele Wege auszuprobieren. Und wenn einer nicht gelingt, dann bricht kein Ego zusammen.

Aber wie nun passen diese frohen Botschaften zu den oben genannten Schreckensmeldungen aus Japan? Karriereentscheidend ist, welche Schule das Kind besucht. Die Zugehörigkeit zu einer angesehenen Gruppe ist wichtig. Schon der Kindergarten bereitet Lebenswege vor. Ausschlaggebend ist, an welcher Universität man studiert hat, das Prädikat im Examen hingegen ist unwichtig. Schulen und Hochschulen sieben deshalb mit Eingangsprüfungen. Um sich auf die vorzubereiten, werden absurde Paukkurse und aufreibende Prüfungstrainings in Kauf genommen. Hier gilt nichts als taktisches Lernen. Wer dann den Eintritt geschafft hat, wird in Ruhe gelassen, wird geachtet.

Japan hat ein doppelt gefaltetes Bildungswesen. Erst grausames Quetschen. Wer den Schritt geschafft hat, wird gelassen aufs Leben vorbereitet. Die Hülle von Selektion, Drill und taktischer Selbstverwertung legt sich in Japan über sehr viel älteres kulturelles Urgestein: dessen Textur gebietet Achtung für Dinge und Anerkennung unter Menschen. Darauf basiert der japanische Erfolg. Wenn man hierzulande von Japan lernen will, dann von diesen älteren Strukturen. Ob das wohl unsere sogenannten Konservativen verstehen? Und ob die Progressiven von Japan lernen, wie wichtig die kleinen Rituale des Alltags sind? Reinhard Kahl

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