: Babyboom auf dem Straßenstrich
Die Prostituierten auf Europas längstem Straßenstrich können sich weder Verhütungsmittel noch Abtreibungen leisten. Die Neugeborenen landen in Heimen, mit schlechten Chancen auf Adoption. ■ Von Mechthild Bausch
„Ruska“ heißt die Hauptstraße in dem böhmischen Dorf Dubi – Russische Straße. Besser bekannt ist dieses Stück der E 55 zwischen Prag und Dresden, wenige Kilometer vom Grenzübergang Zinnwald entfernt, als „längster Straßenstrich Europas“. Seit drei Jahren besteht die zäh in die Länge gedehnte Siedlung Dubi eigentlich nur noch aus Hauptstraße und Hinterzimmern. In den Hauseingängen sind „Bars“ ausgewiesen. Pappschilder werben grob mit „Essen hier“. Im fahlen Kupferlicht der Laternen bilden die Prostituierten zu Dutzenden ein Spalier rechts und links der Fahrbahn. Die jungen Frauen, selten älter als 16, 17 Jahre, kommen aus allen Teilen Tschechiens und den tiefsten Provinzen der Slowakei, aus Rußland und Rumänien.
Lkws stauen sich mit stummem Motor auf beiden Seiten der Grenze, die Wartezeiten werden stündlich im Radio aktualisiert. Für Pkws ist die Grenze von Sachsen nach Böhmen schnell und leicht passierbar. Vor allem deutsche Autos fahren die Ruska in gemessenem Tempo entlang. Die Nummernschilder zeichnen die Routen nach: DD für Dresden, aber auch Köln, München und Bad Segeberg. Die Tarife beginnen bei 30 Mark. Für 20 Mark Aufpreis ist der Verzicht auf ein Kondom schon inklusive, und dies ist die bevorzugte „Finesse“.
Daß die offiziell registrierten Fälle von Syphilis und Tripper in den letzten Jahren nicht gestiegen sind, hat banale Gründe. Die Freier bemerken die Infektion erst zu Hause, und die Prostituierten gehen nicht zum Arzt, weil sie nicht krankenversichert sind. Geschlechtskrankheiten sind außerdem meldepflichtig und bedeuten mithin „Arbeitsausfall“. Die Zuhälter haben sich deshalb auf eine groteske Form vermeintlicher Vorsorge verlegt. Sie kontrollieren in der Region einen regelrechten „Schwarzmarkt“ für Antibiotika: Wie Bonbons verabreichen sie den Frauen, je nach Versorgungslage, wahllos die begehrten Tabletten, womit dem Medikament allerdings jegliche Wirksamkeit genommen ist.
Verhütungsmittel verteilt an der Ruska kein Mensch. Für eine gynäkologische Untersuchung werden 1.000 Kronen, umgerechnet 70 Mark, verlangt. Die „Pille“ ist zwar nicht teuer (1,10 Mark pro Monatspackung), aber verschreibungspflichtig. Und so können die Frauen eine Folge ihrer Arbeitspraktiken nicht mehr ignorieren: sie werden schwanger.
Das nächste staatliche Krankenhaus befindet sich in der vier Kilometer entfernten 60.000-Einwohner-Stadt Teplice. Jiři Kahánék ist Chefarzt der gynäkologischen Abteilung in der Teplicer Klinik. „Drei Prostituierte im Monat“, schätzt Kahánék mangels Statistik, „kommen hierher, weil sie schwanger sind.“ Für eine Abtreibung im Rahmen der geltenden Fristenregelung ist es häufig zu spät, oder die Frauen bringen die 3.000 Kronen für den Eingriff nicht auf.
Außerdem stammen viele Patientinnen aus der Slowakei. Bei Ausländerinnen jedoch, und als solche gelten sie, sind Schwangerschaftsabbrüche im tschechischen Staat nicht erlaubt. So kehren die Frauen meist erst wieder zur Niederkunft ins Krankenhaus zurück.
Oft arbeiten sie auch im achten Monat der Schwangerschaft noch an der Straße, bestätigt der Gynäkologe schulterzuckend. Und oft warten statt Verwandten mit Blumensträußen die Zuhälter vor den Kliniktüren, um die Frauen möglichst umgehend wieder mitzunehmen. Die Säuglinge bleiben in den meisten Fällen in der Klinik zurück.
Teplice. Stadt ohne Fluß, ohne Ufer. Zum Trost sprudelten hier den slawischen Siedlern unverhofft warme Quellen aus der Erde entgegen. Seit dem 16. Jahrhundert legte Teplice sich als Kurstadt ins Zeug. Goethe schlang sich im Badehause einst das Handtuch um die Hüften, Isadora Duncan tanzte in der Oper vom sogenannten Klein-Paris.
Nicht weit von den verblichenen Fassaden klassizistischer Kuranlagen nebst üppigen Parks befindet sich das Säuglingsheim der Stadt. Die zweistöckige Jugendstilvilla liegt in einer stillen Allee. Es ist so ruhig, daß man das Weinen der Säuglinge auf der Straße hören kann. In den hellen hohen Räumen im zweiten Stock schlafen die jüngsten, erst wenige Monate alten Babys friedlich in ihren Gitterbettchen. Es riecht nach frischgewaschener Baumwolle und Badeschaum. Ein Stockwerk tiefer vertreiben sich die „Größeren“ den Nachmittag, auf weichen Matten liegend.
40 Kleinstkinder werden in der geräumigen Villa von hellblau beschürzten Schwestern, einer Kinderpsychologin und Helfern betreut. Im Nachbargebäude sind weitere 30 Kinder, zwischen einem und drei Jahren alt, untergebracht. Die Kapazität sei ausgelastet, aber nicht überlastet, sagt die Direktorin Jiřina Rajtrová.
Das Geschäft an der E 55 schlägt zu Buche. „Im Frühjahr 1993 zum Beispiel, da haben wir besonders viele Neugeborene aufgenommen, das war die Zeit neun Monate nach dem Sommer. In dieser Jahreszeit waren einfach mehr Frauen draußen auf der Straße“, erklärt die Kinderärztin Rajtrová. „Die meisten dieser Babys haben noch keine Namen, wenn sie zu uns kommen, aber wir geben ihnen gerne Namen“, sagt sie versonnen. 19 Babys von Prostituierten leben nach ihren Angaben derzeit in den Heimen, die ältesten sind knapp über zwei Jahre alt. Doch die wenigsten von ihnen sind frei für eine Adoption. Für 15 Schützlinge, die laut Geburtsurkunde slowakische Mütter haben, scheitert die Suche nach Adoptiveltern an ihrer Nationalität: Tschechische Ehepaare dürfen keine slowakischen Kinder annehmen.
Diese Tatsache und ihre Folgen schmerzen die Kinderärztin. „Ich kann es nicht mehr mit ansehen, wie die Kinder warten und warten müssen“, sagt Jiřina Rajtrová. „Zumal sehr viele tschechische Ehepaare ein Kind adoptieren möchten; die Wartezeiten betragen bis zu fünf Jahren.“ Abhilfe ist nicht in Sicht, denn die slowakischen Behörden sind für diese Probleme auf beiden Ohren taub. Jiřina Rajtrovás Anrufe und Briefe, unterstützt vom Prager Sozialministerium, haben bisher nichts zuwege gebracht. So steht den Kindern mit slowakischem Paß bis auf weiteres der lange Marsch durch die Heime bevor. Vor ihren Vätern jenseits der Grenzen werden sie sowenig erfahren, wie diese von ihnen jemals werden wissen wollen. – Das Baby von Swetlana dagegen hat beste Chancen, bald Adoptiveltern zu finden. Die 18jährige Prostituierte stammt aus Most und hat ihr Kind gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben. „Ich hatte kein Geld für die Abtreibung“, sagt sie. „Und was sollte ich sonst machen, in dieser Wohnung gibt es nicht einmal warmes Wasser.“ Eine Ausbildung hat Swetlana nach Abschluß der achten Klasse nicht begonnen. „Ich möchte heiraten und eine Familie haben“, sagt sie und zupft an ihrer Unterlippe. Ob sie denn nicht gerne weggehen würde? „Wohin denn?“ fragt die junge Tschechin, „nach Deutschland zum Beispiel kann ich nicht gehen, weil ich die Sprache nicht spreche.“
In einem der geduckten, schmutziggrauen Häuser, direkt an der Ruska von Dubi, lebt Swetlana seit drei Jahren. Aus dem Nebenzimmer der Wohnküche dröhnen Fernsehstimmen, die Tür ist mit grinsenden Konterfeis sorgloser, millionenschwerer Jungstars aus „Beverly Hills 90210“ beklebt. Swetlanas Wohnungsnachbarin Eva, eine junge Russin, spricht fließend Deutsch. Sie dolmetscht das Gespräch am Küchentisch.
Neben Evas silberblonder Haarmähne und dem bonbonfarbenen Pulli sieht Swetlana aus wie eine Schülerin, die beim Rauchen im Pausenzimmer erwischt worden ist. Sie fährt mit dem Finger über den Kalender an der Wand, um sich den genauen Entbindungstermin im letzten Sommer ins Gedächtnis zu rufen. Die Ärzte stellten bei der damals 17jährigen Mutter Syphilis fest. Auch bei dem Säugling, einem Mädchen, das sie Swetlana nannte, wurden die typischen Abwehrkörper nachgewiesen.
Ungefähr zehn Prozent der von Prostituierten geborenen Kinder sind von der Mutter mit den Erregern von Syphilis oder Tripper infiziert worden, schätzt die Kinderärztin Rajtrová. Syphilis ist die auch für das Neugeborene weitaus gefährlichere Infektion. Möglichen Spätfolgen wie Störungen des Knochenwachstums und Debilität wird mit einer starken Penicillin- „Kur“ vorgebeugt.
Die Kosten für diese Behandlung wie auch die gesamten Kosten der Entbindung zahlt nicht selten das Prager Gesundheitsministerium. Denn die Frauen kommen oft ohne Papiere, geben falsche Namen oder Adressen an. 15.000 bis 20.000 Kronen betragen die Gesamtkosten einer Entbindung. Das ist mehr als das Monatsgehalt eines Arztes in staatlicher Anstellung: 10.700 Kronen werden ihm jeden Monat überwiesen, offenbart Dr. Kahánék, das sind etwa 660 Mark.
Doch das Leben ist teuer geworden in der Tschechischen Republik, und nicht einfacher. Das soziale Engagement für die Prostituierten und gegen die Folgen der Prostitution hält sich begreiflicherweise in Grenzen. „Wissen Sie“, sagt ein privater Teplicer Frauenarzt im Gespräch, „warum ich solche Probleme lieber an der Oberfläche als in der Tiefe erörtere? Weil ich Nationalstolz habe.“
Auf deutscher Seite werden die Tschechen prompt entsprechend eingestuft: „Sehr sensibel“, urteilt Frank Komar, Dienststellenleiter des Deutschen Roten Kreuzes im sächsischen Dippoldiswalde nahe der Grenze. Hier hat man die Erfahrungen der böhmischen Kollegen zumindest als ein „eindeutig deutsch-tschechisches Problem“ erkannt und gemeinsame Beratungen in Teplice initiiert. In Dippoldiswalde selbst werden derzeit drei Streetworker, zwei Frauen und ein Mann, für die Arbeit hinter der Grenze ausgebildet. Das Pilotprojekt „Streetwork“ ist in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden angesiedelt. Gesundheitliche Aufklärung und Beratung sollen die Mitarbeiter am Straßenstrich in Dubi leisten, tausend Kondome liegen für diese Mission bereit. „Wenn die Frauen nicht verhüten, können sie schließlich Geschlechtskrankheiten, Kinder und Aids bekommen“, faßt die Projektleiterin Sylvia Urban knapp zusammen.
Doch gegen deutsche Freier, die in Dubi ein billiges Eldorado gefunden haben, in dem sie mit ebensolchen Ansinnen bisher nicht schikaniert wurden, ist noch kein Kraut gewachsen.
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