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„Angelegt, gezielt, aber nicht geschossen“

■ Nur noch Bewährungsstrafe statt Haftstrafe für Todesschuß auf Gueffroy

Der Todesschütze des vermutlich letzten Maueropfers Chris Gueffroy ist gestern zu einer Bewährungsstrafe anstelle einer ursprünglich verhängten Haftstrafe verurteilt worden. Für die Tötung des DDR-Flüchtlings verhängte das Landgericht in der Neuverhandlung des ersten Mauerschützenprozesses gegen den Angeklagten ehemaligen DDR-Grenzposten Ingo Heinrich (28) eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. Im ersten Verfahren war Heinrich noch zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Das erneute Aufrollen des Falles war durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom März 1993 notwendig geworden, der in zentralen Punkten das erste Urteil des Landgerichts aufgehoben hatte. Dessen erste Verurteilung Heinrichs war von den Bundesrichtern als zu hoch beanstandet worden.

Heinrichs Postenführer Mike Schmidt (29) wurde von der 27. Großen Strafkammer wie bereits im ersten Prozeßdurchgang freigesprochen. Die Richter sahen es als nicht zu beweisen an, daß der Beschuldigte bei seinem Befehl an Heinrich „Schieß doch!“ die Tötung Gueffroys in der Nacht zum 6. Februar 1989 in Kauf genommen hatte. Die Bundesrichter hatten Schmidts ersten Freispruch aufgehoben, weil von der damaligen Strafkammer nicht genügend geklärt worden war, ob dieser bei seinem Befehl die Tötung Gueffroys gewollt hatte. Nach zwei Verhandlungstagen verneinte dies die 27. Große Strafkammer. Sie hielt Schmidt zugute, daß er in der Tatnacht mit seiner Pistole hätte selber schießen können. „Er hat angelegt, gezielt, aber nicht geschossen“, sagte der Vorsitzende Hans- Georg Bräutigam, der im Prozeß gegen Erich Honecker vor über einem Jahr wegen Befangenheit ausgeschieden war. Daß Schmidt nicht geschossen habe, zeige, daß er eine „Hemmschwelle“ zur Tötung gehabt habe. Bei seinem Befehl an Heinrich habe er darauf vertraut, daß dieser – wie mit ihm vorher abgesprochen – nur auf die Beine zielen werde.

Bei Heinrich waren der Strafkammer die Hände weitgehend gebunden, weil die Bundesrichter ihn als Todesschützen schon rechtskräftig schuldig gesprochen hatten. Im Hinblick auf die Neufestsetzung seiner Strafe wertete das Gericht zu seinen Gunsten, daß er auf Befehl gehandelt habe und „indoktriniert“ gewesen sei.

Die Staatsanwaltschaft, die wegen des Freispruchs für Schmidt unter Umständen erneut in die Revision gehen will, hatte für beide Angeklagte zwei Jahre Haft auf Bewährung verlangt. Die Verteidigung Heinrichs hatte sechs Monate auf Bewährung, die Verteidigung Schmidts Freispruch verlangt. Karin Gueffroy – die Mutter des Erschossenen – hatte sich den Anträgen der Staatsanwaltschaft angeschlossen und in ihrem Schlußwort betont, sie könne die Beschuldigten „nicht von ihrer moralischen Schuld freisprechen“. dpa

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