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Cursorcowboys und die Realität

■ Das Medienlabor ließ im Münchner Marstall zu Simulation und Fiktion tagen

Zwei Unbekannte treffen sich im Datennetz und tauschen über die Tastaturen ihrer Rechner Schmeicheleien aus. Der eine nennt sich fesch Cursorcowboy, die andere Person schmückt sich mit dem Namen Datenlaura. Man freundet sich an und trifft sich nun jeden Tag im Netz, wohl wissend, daß der eine in Chicago wohnt, während die andere in Los Angeles ihren Computer bedient. Der digitale Briefwechsel findet ein jähes Ende, als der Cowboy mehr von der Netzwerkdonna will. Die schaltet aber nicht einfach ihren Computer ab, sondern meldet dem überraschten Macho zurück, daß sie gar keine „Sie“ ist, sondern ein „Er“: Geschlechterwechsel im Netz sind üblich – kein Problem, solange niemand auf Verletzung seiner Privatsphäre klagt. Der Datenaustausch spielt sich auf dem „Internet“ ab, das aus einem Verbund von Universitätsrechnern entstanden ist und derzeit über 20 Millionen Computernutzer miteinander verbindet. Dieses Phänomen wurde auf der Münchner Tagung „Simulation und Fiktion“ durch den Ausstellungsmacher Timothy Druckrey vorgestellt.

Die zweitägige Veranstaltung in Zusammenarbeit mit Florian Rötzer war ein vorsichtiger Versuch, das Entstehen neuer technischer Formen wie der virtuellen Realität und dem Cyberspace zu diskutieren. Druckrey unterschied zwischen der virtuellen Realität, die mit Datenhandschuhen und -helmen rechnergestützte künstliche Umgebungen schaffen möchte, und dem Cyberspace, dem Datenraum, der an die Computertastatur angeschlossen ist, und innerhalb dessen über sprachliche Zeichen kommuniziert wird. Dieser Raum expandiert derzeit wie eine gewaltige, unendliche Textsammlung und erfordert eine neue Theoriebildung, wie Geert Lovink von der „Agentur Bilwet“ ausführt: „Es geht darum, mit den Simulationen zu leben und den Cyberspace, die virtuelle Realität, zu gestalten. Wir gehen jetzt in eine Phase, in der die technologischen Umwälzungen geschehen. Die Einführung des Computers ist vorbei. Jetzt werden die Netze ausgebaut. Diese Phase muß man mitgestalten und nicht durch Grundsatzfragen aufhalten wollen. Die Diskussion muß alltägliche Probleme bedenken.“

Was aber sind die alltäglichen Probleme? Für Lovink vor allem Identitätsfragen, Kriminalität, „all das, was es in der Außenwelt auch gibt. Es geht darum, wie IBM, AT&T aufrüsten, wie Datenautobahnen gebaut werden, und was das für die Freiheit, die privacy, im Datenverkehr bedeutet. Alle, auch diejenigen, die die Anarchie produktiv finden, sind davon überzeugt, daß man daran arbeiten muß, die Freizügigkeit der Kommunikation im Netz zu bewahren und auszubauen. Die digitale Stadt, die wir vor zwei Monaten in Amsterdam gegründet haben, ist so ein Beispiel. Sie gibt Bürgern, die nicht mit Universitätsrechnern verbunden sind, eine Chance, an den neuen Kommunikationsformen teilzunehmen — ein großangelegter Datentreffpunkt für jetzt schon mehr als 10.000 User. Die Stadt erreicht man über ein Menü in holländisch. Das ist eine Besonderheit in dem englischsprachigen Internet mit seinen 30 Millionen Benutzern. Die Besucher der digitalen Stadt können sich auf einer Ebene über die ,reale‘ Stadt Amsterdam austauschen; indem sie wie bei einem Telefongespräch über ,ihr‘ Amsterdam sprechen, bewegen sie sich in der digitalen Stadt, die sie auch mit Vorschlägen verändern können. Die aktiven Benutzer fühlen von sich aus Verantwortung für den Datenraum ihrer digitalen Stadt. Das gilt auch für die Randalierer. Wenn sie randalieren, zeigen sie, daß sie etwas verändern wollen.“

Unsichtbarer Tagungsteilnehmer war der französische Soziologe Jean Baudrillard. Die Münchner Veranstaltung hütete sich vor einem Vatermord und versuchte mit 14 Referaten, den theoretischen Schlingen zu entgehen, die Baudrillard durch seine soziologische Symbolverarbeitung erzeugt hat. Rattenneuronen, optische Täuschungen, Roboter und filmische Praxis dagegen gerieten in den Sog der Tagungsworte „Simulation und Fiktion“.

Der Kunsthistoriker Kim Feldmann aus Toronto eröffnete als historischer Bildverarbeiter die Tagung. In seiner Multimediashow mit Bildern von Leonardo, Escher und E.T. zeigte er Gemeinsamkeiten zwischen der Renaissance-Perspektive und heutigen Computerbildern. Eine andere Form der Interaktion führte der Linguist Roland Posner vor: „Wo ist der Rest von mir?“. Ihn interessierten nicht Cursorcowboys, sondern der Leinwandheld Ronald Reagan, der in dem gleichnamigen Film einen braven, beinamputierten Musterknaben spielt. In seiner Autobiographie sieht sich Reagan zeitweilig als Halbautomat, der sein Selbst aufgrund der Aussagen von Erziehern und Mitschülern entwickelt. Ronnie bemüht sich, in der Schule ein Schönschreiber zu

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sein, weil er einmal gesagt bekommen hat, daß er schön schreibt. Er wird Schauspieler, weil ihm jemand sagt, er sei das. Diese Rückkopplung läßt sich formal darstellen. Der Schritt vom Halbautomaten Ronald Reagan, der die Bedürfnisse des Establishments bedient, zur Roboterintelligenz ist theoretisch naheliegend, praktisch jedoch schwierig.

Ein Referat über die Beziehung zwischen Roboterbau und asiatischen Kampfsportarten zeigte das damit verknüpfte geistige Gefüge anschaulich. Für den Menschen ist es nach Meinung von Christoph Christaller lebenswichtig, mentale Filme zu produzieren, in denen er sich auf gefährliche Situationen einstellen kann, was seit Jahrtausenden im asiatischen Kampfsport geübt wird. Entscheidend dabei ist, daß man flexibel mit dem gegnerischen Verhalten umgeht.

Christaller, der Aikido betreibt und Roboter baut, nimmt an, daß Roboter mit Mentalbildfähigkeiten ausgestattet werden müssen, wenn sie selbständig Probleme bewältigen sollen. Filme über mögliche Folgen dieser Roboterforschung wurden dann leider nicht zur Diskussion gestellt.

Timothy Druckrey schließlich versetzte Techno-Euphorikern einen Dämpfer. Anstatt über die Wirklichkeit und Unwirklichkeit in den neuen Systemen zu diskutieren, sprach er von Befehlsmustern, die eine Industrie vorbereiten und nach denen Wissen zum Konsumgut umgestaltet wird. Dagegen kann man wie Druckrey eigene Ausstellungen im Internet planen. Oder auch im Sinne der Agentur Bilwet selbst potentielle Medien machen: „Potentielle Medien kann es geben oder nicht, es sind Konzepte. Sie schaffen einen Möglichkeitsraum, so wie auch die Technik Möglichkeiten schafft. ,Terminator II‘ ist ein potentieller Medienfilm. Er führt durch den Raum einer möglichen technischen Entwicklung, um dann zu sagen: So nicht“.

Vor allem fehlt es an Medienpraxis: „In Deutschland dikutiert man zwar theoretisch auf sehr hohem Niveau, hat aber kaum Erfahrung mit den Kommunikationsnetzen. Das liegt zum Teil an der absolut unsinnigen Politik der Telekom. Sie trifft die falschen Entscheidungen und kriminalisiert die Hacker. Die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland ist nicht in der Lage, sich die neuen Kommunikationstechniken anzueignen.“ Ob er sich auch zur bürgerlichen Gesellschaft zähle, beantwortete Lovink mit einem Ja: „Jedoch mehr im Sinne der civil society, in der die Leute selbst etwas machen, ohne den Staat. Sie bauen selbst den Datenraum aus, ohne sich von der Telekom bevormunden zu lassen. Bilwet steht neben dem Menschen und macht mit ihm gemeinsame Sache. Der Mensch ist eine wetware, etwas Feuchtes, Glitschiges, gar nicht Perfektes. Er bewegt sich zwischen den perfekten Maschinen und den perfekten Programmen und läßt sich nicht so einfach fassen, weil er in Bewegung ist und Fehler macht. Das ist sympathisch, und wir können darüber lachen.“ Nils Röller

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