Ohne „Netto-Vorteil“ keine britische Atomkraft

■ Richter zwingt Regierung, künftig atomare Belastung gegen Nutzen abzuwägen

London (taz) – Die britische Regierung hat sich zu früh gefreut: Zwar gab das Londoner Gericht Anfang März grünes Licht für die gigantische atomare Wiederaufarbeitungsanlage „Thorp“ auf dem Sellafield-Gelände im Nordwesten Englands, doch das Urteil hatte einen Pferdefuß.

Richter Potts vermerkte nämlich ausdrücklich, daß bei Atomanlagen nach europäischem Recht ein „Netto-Vorteil“ für die Bevölkerung nachgewiesen werden muß, wenn zusätzlicher radioaktiver Müll in die Umwelt eingeleitet werden soll. Mit anderen Worten: Der Nutzen einer neuen Atomanlage muß die Gefahren durch die verstärkte radioaktive Belastung deutlich übertreffen. Bisher war die Regierung davon ausgegangen, daß die radioaktive Belastung einer Atomanlage nur „so niedrig wie mit angemessenen Mitteln erreichbar“ sein müsse.

Der erste Anwendungsfall für diese Art Kosten-Nutzen-Analyse wird der neue Druckwasserreaktor „Sizewell B“ im Süden Englands. Die Genehmigung des Reaktors liegt derzeit auf Eis. Die Inbetriebnahme des Reaktors wird sich möglicherweise um sechs bis neun Monate verzögern, weil die Regierung erst die Abwägung von radioaktiver Belastung und Nutzen des Meilers vornehmen und anschließend noch Konsultationen darüber abhalten muß. „Wenn die Genehmigung für Sizewell jetzt gegeben würde, könnte jeder dagegen klagen“, sagte Sarah Burton von der Umweltschutzorganisation Greenpeace. „Ich glaube nicht, daß die Regierung versucht, ohne durchzukommen.“

Die Verzögerung in Sizewell kostet Millionen von Pfund und läßt das mühsam konstruierte Zahlenwerk, wonach der Atomstrom des Meilers vergleichsweise angeblich preisgünstig ist, wie ein Kartenhaus zusammenstürzen. Dennoch ist letztlich nicht damit zu rechnen, daß ein Gericht nach der Anhörung den Atommeiler Sizewell B einmotten wird.

Ob eine geplante generelle Überprüfung der Atompolitik zur gleichen Zeit wie die Sizewell-Anhörung stattfinden soll, ist auch noch nicht entschieden. Das Ministerium für Handel und Industrie, das für die personalaufwendige Überprüfung zuständig ist, hat erst mal einen Einstellungsstopp verhängt. Aus der Routineüberprüfung, wie sie das Ministerium geplant hatte, wird nun jedenfalls nichts. Die Politiker mußten inzwischen akzeptieren, auch unbequeme Themen wie die Entsorgung des Atommülls und die Stillegung alter Reaktoren in die Überprüfung ihrer Atompolitik mit einzubeziehen. Ralf Sotscheck