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Die Macht liegt auf der Straße

Seit Wochen demonstrieren in Frankreich jeden Tag Schüler und Studenten gegen Billiglöhne / Die konservative Regierung laviert zwischen Nachgeben und Durchgreifen  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Ideen? Ideologien? Utopien? „Damit kann ich nichts anfangen“, sagt Alix. Die Pariserin geht zur Fachhochschule, will Buchhalterin werden und findet sich selbst „weder rechts noch links“. Wenn sie wählen geht – wozu die 20jährige noch nicht oft Gelegenheit hatte –, entscheidet sie sich für eine Person, nicht für eine politische Linie.

Alix gehört zu den Leuten, die Frankreich seit einem Monat in Atem halten. Die adrett gekleidete junge Frau aus konservativem Elternhaus protestiert gegen eine Politik, die die Lohnkosten für Jugendliche senken will. Sie nimmt an Demonstrationen, Streiks und Vollversammlungen teil, und sie diskutiert mit StudentInnen, Eltern, Lehrern und dem Arbeitsminister der französischen Regierung.

Die Wende in Alix' Leben kam am 24. Februar. An diesem Tag veröffentlichte die Regierung zwei Dekrete zur „Integration in den Arbeitsmarkt“ (CIP). Sie sahen vor, daß Jugendliche bis zu 25 Jahren unabhängig von ihrem Ausbildungsstand zu lediglich 80 Prozent des gesetzlichen Mindestlohns beschäftigt werden können – umgerechnet rund 1.100 DM. Doch was als Vorstoß gegen die Jugendarbeitslosigkeit gedacht war, die in Frankreich bei fast 25 Prozent liegt, geriet zur Initialzündung für eine Massenbewegung.

Es vergingen nur wenige Stunden, bis die Bezeichnung „Mini- Mindestlohn“ (SMIC-Jeunes) geboren war. Vergeblich versuchte der konservative Regierungschef Edouard Balladur das Land davon zu überzeugen, daß seine „Integration in den Arbeitsmarkt“ nicht gegen die junge Generation gerichtet sei. Die war längst auf der Straße und skandierte „Jugendliche im Sonderangebot“ und „Wir lassen uns nicht ins Abseits drängen“.

Schon die Demonstrationen der ersten Tage in Paris zählten Zehntausende TeilnehmerInnen. Anfang März schwappte die Protestwelle in die Provinz über. Seither ist kein Tag vergangen, an dem nicht irgendwo in Frankreich SchülerInnen und StudentInnen auf die Straße gegangen wären. Alle Gewerkschaften und linken Parteien schlossen sich den Protesten an, vereinzelt demonstrierten Arbeitslose und Obdachlose mit. Auch im Lager der beiden Koalitionsparteien mehrte sich Kritik.

Am Ende der Demonstrationen kam es in den Großstädten Paris, Nantes und Lyon immer häufiger zu Straßenschlachten und Plünderungen von Geschäften. Mehrere Dutzend Jugendliche wurden bereits in Schnellverfahren verurteilt. Sie bekamen Strafen, die von mehreren Monaten auf Bewährung bis zu mehreren Monaten Gefängnis reichen.

Nach ihrer ersten Überraschung schlug ein Teil der Regierung einen scharfen Ton an. Innenminister Charles Pasqua, in dessen letzter Amtszeit Ende der 80er Jahre ein demonstrierender Schüler bei einem Polizeieinsatz ums Leben kam, warnte, es könne „jederzeit zu schweren Zwischenfällen kommen“. Die Veranwortung dafür hätten die veranstaltenden Organisationen. Die Schuldirektoren, so Pasqua, sollten ihre SchülerInnen lieber einschließen.

Gleichzeitig machte die Regierung erste Rückzieher: Sie beschränkte den „Mini-Mindestlohn“ auf Jugendliche ohne technische Berufsausbildung. Die anderen sollten 80 Prozent des branchenüblichen Grundlohnes bekommen, was oft nicht sehr viel mehr ist. Und die Arbeitgeber müssen den Jugendlichen eine betriebliche Weiterbildung geben. Aber von dem Prinzip, Jugendliche zu Sonderkonditionen in den Arbeitsmarkt zu führen (CIP), rückte sie nicht ab.

Pascal, der bis vor einem Monat zufrieden mit der Politik von Balladur war, ist „selbst überrascht, daß wir so wichtig geworden sind“. Der 20jährige angehende Exportkaufmann arbeitet mit der „Nationalen Koordination“ der Studenten an der Pariser Fachhochschule IUT zusammen. Die Schulleitung hat ihnen ein Lehrerzimmer im fünften Stock zur Verfügung gestellt. Seit vier Wochen schreiben sie Flugblätter, organisieren Pressekonferenzen und halten den Kontakt zur Provinz.

„Für uns ist das ein Crash-Kurs in der Organisation einer sozialen Bewegung“, lacht Yves. Die Luft in dem Lehrerzimmer, wo er seit Beginn der Aktivitäten vor einem Monat oft bis spät in die Nacht sitzt, ist mit Tabakqualm geladen. Die Jugendlichen zählen das Geld, das sie am Morgen gesammelt haben. Es ist für neue Flugblätter und Transparente. An den Wänden des Schulgebäudes hängt der neueste Streikbeschluß, daneben Plakate über Reiseziele und Weiterbildungsmöglichkeiten. Im Aufzug hat jemand ein Lob auf die Kommunistische Partei geschrieben.

Die Jugendlichen von der „Nationalen Koordination“ haben Verständnis für Balladur. „Wir haben drei Millionen Arbeitslose, da muß etwas passieren“, meint Severin, dem der ermordete chilenische Ex-Präsident Salvador Allende besonders sympathisch ist. Der 20jährige, der seine Demonstrationen noch zählen kann (es waren acht), ist sich aber sicher, daß das Problem „nicht allein auf dem Rücken der Jugendlichen ausgetragen werden kann“.

Daß die Regierung nun die abgemilderte Fassung ihrer „Reform“ im Gesetzesblatt veröffentlicht hat, reicht den StudentInnen nicht. Unabhängig von den „Randalierern“, wegen derer sich Pasqua solche Sorgen macht, wollen sie weitermachen, bis das ganze Vorhaben gekippt ist. Dann wollen sie die „Nationale Koordination“ auflösen – und weiterstudieren.

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