: Downtown Saint Louis
Glanz und Elend des Paris von Amerika. St. Louis denkt wehmütig an die Pionierjahre zurück ■ Von Frank Wache
Was wäre das „Paris Amerikas“ ohne seinen Triumphbogen? Ein 200 Meter hoher, rostfreier Edelstahlbogen – das höchste Monument der Vereinigten Staaten – spannt sich wie eine halbe, auf den Kopf gedrehte Halskette vor die Stadt St. Louis im Bundesstaat Missouri. Das Metallmonster am Ufer des Mississippi soll den Eroberungszug der Menschen von St. Louis aus nach Westen symbolisieren. Für den Europäer wirkt der Bogen, wie der Eiffelturm bei der Einweihung für die Pariser gewirkt haben muß: häßlich, wundervoll, sinnlos, genial... Der architektonische Kraftakt, welcher der lokalen Stahlindustrie den letzten Großauftrag bescherte, ist ein zu fester Form gewordener Widerspruch. Deshalb paßt er so gut zu St. Louis. Kaum eine Stadt Amerikas hat das Aufblühen des Landes so intensiv miterlebt wie St. Louis, und kaum eine Stadt ist aus dem amerikanischen Traum so ernüchtert erwacht wie St. Louis. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sorgen, die heute die Stadt am Mississippi plagen, sind symptomatisch für die Sorgen vieler Städte in Amerika.
Über dem Lenkrad von Cliffs Auto baumelt Malcolm X. Ein Jahr nach dem großen Medienrummel um den ermordeten Bürgerrechtler begegnet man auf den Straßen noch immer dem großen Buchstaben „X“: auf Mützen, Schuhen, Hemden, Taschen. In vielen Autos hängt am Rückspiegel anstatt des Duftbäumchens ein Bild des Helden der afroamerikanischen Minderheit. Auch in Cliffs Impala. Sein Freund fingert am Motor herum, Abgase rauchen ins Wageninnere. Cliff dreht am Radio bis er den schwarzen Sender „Majic 108“ empfängt. HipHop- Musik, die nach Bürgerkrieg klingt, dröhnt aus den Lautsprechern. Die Songs handeln von Neun-Millimeter-Geschossen, Schimpfworten und Uzi-Maschinenpistolen. Die Musik paßt zu Cliffs Laune: kein Job und bald auch keine Wohnung mehr. „Die Armen sollen aus der Stadt verschwinden. Mann, es ist immer dasselbe. Ich sage dir, in Amerika geht es für uns nicht um Schwarz gegen Weiß. Es geht um Arm gegen Reich.“ Der schwarze Arbeitslose schlägt verärgert gegen die Windschutzscheibe und blickt die Delmar Street entlang.
Nur ein paar hundert Meter die Straße hinunter beginnt das Geschäftsviertel von Downtown St. Louis. Imposante Bürohäuser und noble Hotels ragen dort in den Himmel. Cliff sieht den nahen Reichtum der anderen Seite jeden Tag. Doch er wohnt im Schwarzenviertel. Dort sieht es nicht gut aus. Viele Häuser entlang der Delmar Street sind verfallen, zugenagelt, stehen leer. An der Straßenecke verkaufen junge Männer Crack, die Schnapsgeschäfte sind mit Eisenstangen armiert. Cliff deutet auf sein Haus. Seit Jahren tut der weiße Besitzer für die Mieter nicht mehr, als die monatlichen 220 Dollar zu kassieren. Früher bewohnten weiße Bürger das Haus.
So soll es auch in Zukunft wieder sein. Die erklärte Politik der Stadtverwaltung von St. Louis ist es, mittelständische Bürger, ob schwarz oder weiß, wieder ins Stadtzentrum zu locken. Denn St. Louis will die vielen Millionen Steuergelder wiederhaben, die der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg verlorengingen. Damals halbierte sich die Einwohnerzahl schlagartig um die Hälfte auf 400.000. Die Wohlhabenden und Reichen waren über die Stadtgrenze in die Vorstädte geflohen und überließen zahlreiche Wohnbezirke im Zentrum den Armen und Obdachlosen. Die dicken Steuereinnahmen kassiert seitdem der Kreis St. Louis, der einen Ring um die Stadt bildet. Dort wohnen heute rund 2,5 Millionen Menschen.
„Im Stadtzentrum war ich schon seit fünf Jahren nicht mehr“, erzählt Wilma Horowitz kopfschüttelnd. „Früher haben wir dort im ,Casa Loma‘ und in ,Teentown‘ getanzt und gefeiert. Aber nach dem Krieg, als all die Schwarzen in unsere Gegend kamen, das war furchtbar. Hier habe ich alles. Supermarkt, Apotheke, Arzt – ich vermisse nichts.“ Die alte Dame wohnt in Creve Coeur, einem reichen weißen Vorort im Westen des Kreises St. Louis. Ein schönes Wohnhaus mit Garage und Vorgarten reiht sich dort an das nächste. Alarmanlagen schützen die Eigenheime. Private Wachtrupps patrouillieren in der todlangweiligen Gegend und verdienen gut an der Paranoia der Reichen.
Um die Jahrhundertwende war St. Louis eine aufstrebende Stadt voller Reichtum und Ideen. 1904 war das herausragende Jahr dieser Ära. In diesem Jahr veranstaltete St. Louis Weltausstellung und Olympische Spiele. Die Stadt am Mississippi war damals der Nabel der Welt. 20 Millionen Menschen kamen 1904 nach St. Louis und füllten die Kassen. Damals wurde gefeiert, gelacht, musiziert und gelebt. Die deutschen Vertreter auf der Weltausstellung, die eine Replik des Charlottenburger Schlosses aufbauen ließen, sollen bei einer einzigen Party 1.600 Flaschen Champagner getrunken haben. Es gab rauschende Ballnächte auf den Schaufelraddampfern, die sich durch das karamelfarbene Wasser des Mississippi pflügten. Auf legendären Tanzmarathons erfanden die St.-Louisianer mit ihrer Vorliebe für Blues, Dixie und Ragtime so ausgefallene Tänze, daß 1921 die Stadtverwaltung einschritt und den „Camel-Walk“, den „Texas Tommy“ und den „Toodle“ als unmoralisch verbot.
Heute haben die meisten Bewohner wenig Grund zum Feiern. Die verarbeitende Industrie, die St. Louis reich gemacht hat, liegt brach. Einer der größten Arbeitgeber, McDonell-Douglas, ist schwer von Kürzungen im Rüstungsetat betroffen. Die Firma baute in den sechziger Jahren das Kampfflugzeug „Phantom“, die Gemini- und Mercury-Weltraumkapseln und war in den vergangenen Jahren am SDI-Projekt beteiligt. Die Kohle-, Stahl- und Schiffbauindustrie hat schon vor Jahren das Handtuch geworfen. Die Automobilbranche mit Chrysler als größtem Vertreter steckt in der Krise. Aber was die Stadt noch schlimmer trifft: mehr als die Hälfte neuer Firmen wurden außerhalb der Stadtgrenze im Kreis gegründet. Alte, erfolgreiche Unternehmen ziehen in aufstrebende Städte wie Atlanta. Eine der wenigen erfolgreichen Ausnahmen ist die nach eigenen Angaben größte Brauerei der Welt: „Anheuser-Busch“.
Früher war der „Vater aller Gewässer“, wie die indianischen Ureinwohner den Fluß tauften, die große Geldader von St. Louis. In der goldenen Zeit der Dampfschiffe, von 1840 bis 1860, transportierte, verkaufte, verarbeitete St. Louis alle erdenklichen Güter. Die Industrie erlebte einen derartigen Aufschwung, daß Mark Twain über die Luft in der Stadt bemerkte: „Der Rauch macht aus allem eine Antiquität, sobald man die Hand von dem Ding nimmt.“ 15 Meilen nördlich der Stadt fließt der Missouri in den Mississippi und bildet die größte Wasserstraße der USA. Die Lage war ideal als Versorgungszentrum für den endlosen Menschenstrom, der nach Westen zog.
Dort, wo man an klaren Sommerabenden die Trompete von Louis Armstrong gehört haben soll, die von den Show-Boats herüberwehte, kleben heute verrottete Industrieanlagen als trostloser Schlauch an den Ufern des Mississippi. Um 1900 standen Stadt und Industrie an vierter Stelle in den USA. Nach dem Bürgerkrieg sollte St. Louis sogar neue Hauptstadt der Vereinigten Staaten werden. Heute spielen nur noch die beiden Baseball-Teams in der ersten Liga. Die Stadt selbst ist in den vergangenen hundert Jahren mehrmals abgestiegen. Heute steht das „Kind des Flusses und Vater des Westens“ nur noch an 36. Stelle in der Pro-Kopf-Einkommen-Statistik.
St. Louis, benannt nach dem mittelalterlichen französischen König Ludwig 14., wurde im Jahr 1763 von dem Franzosen Pierre Laclede als kleiner Handelsstützpunkt für Felle gegründet. 1803 verkaufte Napoleon das Louisiana-Gebiet (eine Million Quadratmeilen) für 15 Millionen Dollar an die Vereinigten Staaten. Damit war eine riesige Fläche zur Besiedlung frei geworden, und St. Louis wurde zum Sammelpunkt für alle, die ihr Glück im Westen machen wollten. Nach der gescheiterten Revolution von 1848 flohen rund 50.000 Deutsche in das „Neue Paradies“, wie es Gottfried Duden, Jurist und Mediziner, in seinen Schriften pries. Das prägte St. Louis nachhaltig. Es gab ganze Viertel, in denen Platt oder Schwäbisch gesprochen wurde. Deutsche Küche, deutsches Bier und Gemütlichkeit wurden zu festen Begriffen in St. Louis. Bis 1978 erschien die Zeitung Deutsche Wochenschrift.
Erste wirtschaftliche Einbrüche gab es erst nach dem opferreichen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865. St. Louis, das bis dahin in Größe und Wohlstand gleichauf mit seinem Konkurrenten Chicago im Norden gelegen war, hatte sich zu sehr auf den Mississippi als Transportweg verlassen und die Eisenbahn vernachlässigt. Verstärkt wurde die Wirtschaftskrise durch ungerechte Verteilung des früheren Reichtums. Die Wohlhabenden lebten nach Londoner Vorbild in prächtigen Wohnanlagen. Nach Sonnenuntergang wurden dort die schmiedeeisernen Tore geschlossen und bewacht. Die Armen wohnten am Fluß. Huckleberry Finn, berühmte Romanfigur Mark Twains, ist einer dieser Gestrandeten, die sich an den Ufern des Mississippi durchschlugen. Statt ihren Reichtum neu zu investieren, wurde die satte Stadtverwaltung korrupt und ließ die Geschäfte schleifen.
Von der anderen Seite des Flusses aus gesehen, täuscht die Fassade von St. Louis über die Wirklichkeit hinweg. An einer langen Promenade reihen sich drei antike Schaufelraddampfer. Dahinter baut sich die Kulisse der Stadt auf, über die sich der stählerne Triumphbogen wölbt.
Der andere Grund, warum St. Louis von dieser Seite aus gesehen schön erscheint, ist East St. Louis. East St. Louis liegt bereits im Bundesstaat Illinois und ist eine eigene Stadt, aber für viele Menschen haben beide Städte immer zusammengehört. East St. Louis ist noch viel ärmer als sein Nachbar in Missouri. Die Stadt gehört zu den ärmsten in den Vereinigten Staaten. Um die Gläubiger zu beruhigen, verkaufte der Bürgermeister von East St. Louis sein Rathaus und einige Feuerwehrstationen. In den Trümmern der ehemals blühenden Stadt leben fast nur noch Schwarze. Die Eltern raten ihren Kindern, jederzeit von den Fenstern wegzubleiben, aus Angst vor Querschlägern täglicher Schießereien. Große Flächen der Stadt sind rechtsfreie Zonen. Um die totale Auflösung zu verhindern, hat sich der Bürgermeister etwas Neues ausgedacht: Ab nächstem Jahr soll ein alter Dampfer vor der Stadt ankern, in dem ein Casino beherbergt sein wird. Die Stadt rechnet, mit dem Casinoschiff mehr einzunehmen (5 Millionen) als mit den jährlichen Steuereinnahmen (2 Millionen Dollar).
Den „Spirit of St. Louis“ – so hatte der gebürtige Louisianer Charles Lindbergh die Maschine, mit der er von dort aus über den Atlantik nach Paris flog – den Geist der Stadt St. Louis – versteht man nur langsam. Zu viele gegenläufige Geschichten versammeln sich unter dem Edelstahlbogen. Da ist der Süden der Stadt, wo die „Hoosiers“, arme Weiße, wohnen. Da sind die riesigen Industriewüsten, wo sich kleine Striplokale eingenistet haben, da ist das schwarze Viertel mit seinen verlorenen Wohnprojekten und seinen luxuriösen Clubs, das menschenleere Downtown und die feinen Vororte, wo man im österreichischen „Schneithorsts Hofamberg Inn“ exklusiv essen kann. Wie in so vielen anderen amerikanischen Städten wird zukünftig der Dienstleistungsbereich noch stärker wachsen. St. Louis soll wieder als Einkaufsstadt mit einem gepflegten Zentrum attraktiv werden. Der geplante Bau eines neuen Football-Stadions für 70.000 Menschen, der Ausbau der historischen Viertel und das bereits fertige Kongreßzentrum sind Projekte, die St. Louis für Touristen wieder interessant machen sollen. Doch was auch St. Louis in naher Zukunft unternimmt, es wird nicht mehr zu einem Ganzen zusammenwachsen. Zu hermetisch sind die einzelnen Zentren, zu verzettelt die Gesellschaft. Der große gemeinsame Pionierwille des amerikanischen Volkes, den der Triumphbogen beschwört, ist in St. Louis nirgendwo mehr zu finden.
Den Spirit von St. Louis versteht man nur langsam Foto: André Lützen
Der 200 Meter hohe, rostfreie Edelstahlbogen von Saint Louis Foto: Frank Wache/GARP
In Amerika geht es nicht um Schwarz
gegen Weiß. Es geht um Arm gegen Reich.
23Reise
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