: Das innere Handicap
■ Mit „Intravenös“ von Coax eröffnet morgen das Tanztheaterfestival
Gutes Tanztheater war immer gleichzeitig Spektakel und Verstörung, Präzision und Zügellosigkeit, dezent und plakativ. Nur in diesem Spannungsverhältnis entwickelte es seinen Formenreichtum, seine Bedeutung, ja seine Daseinsberechtigung. Und nur in dieser Auseinandersetzung besteht die sinnliche Glaubwürdigkeit, die das Tanztheater wohltuend vom Ballett unterscheidet. Leider verloren zuletzt immer mehr Choreografen und Compagnien in diesem Kraftfeld erst die Übersicht und dann das Gleichgewicht, kippten entweder zur pathetischen oder zur bunten Seite, wurde ornamental, kulinarisch oder blieben einfach kraftlos liegen.
Dies ist der Zustand in der Arena des Tanztheaters, nicht nur in Hamburg, aber auch hier. Coax ist da momentan die einzige Hamburger Gruppe, die sich konsequent und mutig um das professionelle Experiment, um Angreifbarkeit und den radikalen Konflikt auf dem Theater bemühen. Und die Compagnie um die Choreografin Rica Blunck ist auch die einzige ortsansässige Gruppe, die damit bei kontinuierlicher Weiterentwicklung zu einer europäisch anerkannten Compagnie reifen könnte. Schon mit ihren drei bisherigen Produktionen Archetyp (1989, noch unter dem Namen Ancient Fun), Coax (1990) und Drifting (1992-93 in verschiedenen Versionen) tourten sie erfolgreich durch Europa und gerade die letzte Produktion rückte sie verstärkt ins Blickfeld der internationalen Tanzszene.
Ihre neueste Produktion Intravenös, mit der morgen die 4. Internationalen Tanztheaterwochen eröffnet wird, verläßt allerdings das bekannte Zeichenkontingent, mit dem die Gruppe sich ihren Ruf erspielte, denn Intravenös ist die erste Arbeit der Gruppe ohne Nicolas Baginsky. Der Hamburger Künstler hatte bisher die Opponenten und Hindernisse für die Tänzer konstruiert. Mit Insektenmaschinen um einen Käfig im Stück Coax oder dem sich horizontal drehenden Flügel bei Drifting konstruierte und organisierte Baginsky die Attacken auf die Tänzer. Kampf und Krieg, zwischen den Geschlechtern oder gegen äußerliche Zwänge, gefasst in eine krachende Sprache aus gewaltätigen, wiewohl eleganten Bewegungen und martialischen Sounds von Kontaktmikrofonen charakterisierten die Gruppe bisher.
Schon mit der letzten Fassung von Drifting und einer kleinen Arbeit beim Kassandra-Projekt entspannte sich allerdings Rica Bluncks Verhältnis zu Expressivität und Pathos, die manchmal zu aufdringlich gerieten, und die eigentliche choreografische Arbeit trat weiter in den Vordergrund. Bei Intravenös wird nun das Handicap endgültig in die Darsteller verlegt, wodurch formal die Brüderschaft mit der Performance für die Verschwisterung mit dem Theater aufgegeben wird.
Ort des Geschehens ist die etwas andere Bar. Hier treffen sich zwei Männer (Coax-Gründungsmitglied Arthur Stäldi und Schauspieler Armin Dallapiccola) und drei Frauen (neben Blunck die ebenfalls von Beginn an bei Coax tanzende Karin Lechner und Renate Graziadey) zu dem alten Spiel. Verkrampfungen, Posen, Übersprungsverhalten und ekstatische Momente entwickeln sich in der erotischen Spannung wechselnder Konstellationen.
„Es geht mir immer darum, den wahren Kern hinter der Verstellung zu entdecken. Dafür beobachte ich sehr lange andere Menschen in ihrem Alltag“ beschreibt Blunck ihre Arbeitsweise. Ob sich die von ihr dazu ausgedachte Geschichte wirklich so vermittelt, ist der Ur-Hamburgerin nicht vordergründig wichtig. Sie will lieber einen Komplex mit Assoziationen durchleuchten. Das Thema „Sucht/Lust“, das erst vor wenigen Tagen von Christoph Marthaler im Malersaal ausgebreitet wurde, galt auch als Ausgangspunkt und Hintergrundleuchten von Intravenös. Die Umsetzung von Coax dürfte aber etwas muskulöser werden. Und feuchter!
Till Briegleb
Halle 2, 20 Uhr
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