: UN-Schutzzone Goražde ist schutzlos
■ Ostbosnische Enklave kurz vor Fall / Evakuierung von Muslimen und Kroaten aus Prijedor fraglich
Sarajevo/Genf (AP/taz) – Truppen der bosnischen Serben haben in der Nacht zum Dienstag nach schweren Kämpfen Teile der muslimischen Enklave Goražde in Ostbosnien erobert. Gestern setzten sie ihre Angriffe mit schweren Waffen fort. Die nur leicht bewaffneten bosnischen Truppen zogen sich nach hohen Verlusten zurück. Trotzdem lehnen die Vereinigten Staaten als Führungsmacht der Nato weiterhin ein Eingreifen, analog zum Sarajevo-Ultimatum im Februar, ab.
Damit steht die von der UNO zur „Sicherheitszone“ erklärte Enklave kurz vor dem Fall. Die rund 1.000 ukrainischen Blauhelme, die zum Einrücken in die Stadt bereitstehen, sollen nun erst in etwa zwei Wochen eingesetzt werden. Bisher verfügt die UN dort nur über vier Militärbeobachter. Der Weltsicherheitsrat hatte die Lage in Goražde am Montag in New York aufgrund eines Hilfeersuchens der Regierung in Sarajevo erörtert, aber keine Entscheidung gefällt. Der Stabschef der bosnischen Serben, General Manojlo Milovanović, erklärte derweil, seine Truppen hätten die entscheidenden Vorstöße in der Nacht von dem 14 Kilometer südlich von Goražde gelegenen Dorf Cajnice nahe der restjugoslawischen Grenze geführt. Damit liegt nahe, daß die mit Panzern und Haubitzen ausgerüsteten Angreifer von dort gekommen sein müssen. Milovanović rechtfertigte den Angriff mit „Provokationen“ der bosnischen Regierungstruppen.
Zur Lage der rund 65.000 Menschen in Goražde sagte der Genfer Sprecher des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR), Ron Redmond, seit dem 22.März sei kein Hilfskonvoi mehr in die Enklave gelassen worden. Die damals angelieferten 132 Tonnen Nahrungsmittel seien vermutlich weitgehend verbraucht.
Die ursprünglich für heute geplante Evakuierung von bis zu 9.000 nichtserbischen Einwohnern der westbosnischen Stadt Prijedor wird wahrscheinlich zunächst nicht stattfinden. Serbenführer Radovan Karadžić machte seine ursprüngliche Zusage für eine unbegrenzte Ausreise gestern wieder rückgängig. Zudem verlangte er die Evakuierung serbischer Einwohner aus Orten, die von der bosnischen Regierungsarmee kontrolliert werden. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) besteht weiterhin auf einer „bedingungslosen Ausreise aller, die ausreisen wollen“, erklärte der für Europa zuständige Chefdelegierte in der Genfer IKRK-Zentrale, Thierry Germond, in der Nacht zum Dienstag.
Nach dem Mord an 17 muslimischen und drei kroatischen Zivilisten durch serbische Freischärler in der letzten Woche habe sich die Situation trotz Zusagen der bosnischen Serben nicht verbessert, betonte Germond weiter. Bisher habe Karadžić lediglich die Festnahme von zwei Tatverdächtigen angeordnet. Der IKRK-Delegierte wies die Kritik zurück, eine Evakuierung leiste den „ethnischen Säuberungen“ durch die Serben Vorschub. Das IKRK beabsichtige auch weiterhin „keine Evakuierung um jeden Preis“. Doch brauchten die „nationalen Minderheiten“ in den serbisch besetzten Teilen Bosniens „den Raum, um in Würde zu leben“. Bei Gefahr für ihr Leben müßten sie das Recht haben, das unsichere Gebiet zu verlassen.
Im Zuge einer der intensivsten Kampagnen zur „ethnischen Säuberung“ seit Beginn des Krieges in Bosnien heute vor zwei Jahren haben die Serben bisher rund 46.000 Muslime und Kroaten aus Prijedor vertrieben. In der Stadt hatten vor Kriegsbeginn 49.000 Muslime, 47.000 Serben und 6.000 Kroaten gelebt. azu
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