: Kein Minarett weit und breit
Trotz der Anschläge auf touristische Einrichtungen ist der Tourismus in der Türkei der boomende Wirtschaftszweig. Eine Studienreise an die türkische Mittelmeerküste mit der Thomas-Morus-Akademie ■ Von Günter Ermlich
„Wir bitten Sie, Mitarbeiter, die Urlaubsreisen in die Türkei planen, entsprechend zu unterrichten.“ So schließt eine für den internen Hausgebrauch bestimmte Empfehlung des AEG-Konzerns. In dem „Sicherheits-Info“ vom 2. März informiert die Zentralabteilung Unternehmenssicherheit ihre Sicherheitsbeauftragten über „mögliche PKK-Aktionen in der Türkei“ und sieht „keine Veranlassung, an der Ernsthaftigkeit der Drohungen zu zweifeln“.
Wenn schon ein großes Unternehmen wie AEG die Türkei als Reiseziel aus Sicherheitsbedenken unverhohlen auf die „schwarze Liste“ der nicht bereisefähigen Länder setzt, dann wird deutlich, warum die Türkei beim alljährlichen großen Tourismusroulette diese Saison zu den Verlierern zählen wird. Noch immer leidet die Türkei unter dem Image-Verlust durch die Bombenanschläge der PKK in Antalya und im Ferienzentrum Kusadasi im letzten Sommer. Großveranstalter verzeichnen Buchungsrückgänge zwischen 30 und 70 Prozent – und vor allem die deutschen Gäste (1992 mit 28 Prozent aller Touristen die wichtigste Klientel) bleiben aus.
Viel Stoff, aus dem Legenden und Verschwörungstheorien werden. Da verdächtigt ein Kellner in Marmaris den Nachbarn Griechenland, der von den Umbuchungen von Türkei-Urlaubern vergangenes Jahr besonders profitierte, als Bombenauftraggeber. Da bezichtigt ein Restaurantmanager in Side die TUI und andere Großveranstalter, sie würden ihre Gäste wegen des größeren Gewinns lieber in teure Destinationen wie Spanien schicken. Und häufig werden die westlichen (deutschen) Medien mitschuldig erklärt, die die „Türkei als Barbarenort“ (ein Restaurantbesitzer) darstellten oder ihr zumindest „mit gewissem Vorurteil“ begegneten (ein türkischer Großinvestor). Was Gäste im Urlaub wünschen, sind normalerweise die drei unverzichtbaren „S“: Sonne, Sand, Strand. Im Fall Türkei müssen ein viertes und fünftes S hinzukommen: Sicherheit und Stabilität.
Das sieht auch der scheidende Geschäftsführer der Iberotel- Kette Türkiye (TUI-Tochter), Rüdiger Fölske, so: „Politische Stabilität und innere Sicherheit müssen gewährleistet sein. Der Tourismus wird sich nicht entwickeln, wenn der Terrorismus als Hemmschwelle vorhanden ist.“ Um viel mehr als die lästige Sicherheitsfrage ging es den deutschen und türkischen TeilnehmerInnen des Studienprojekts „Tourismus in der Türkei“. Wissenschaftler, Touristiker und Journalisten waren auf Einladung der Thomas-Morus- Akademie an die türkische Riviera geflogen, um sich über „Bilanz, Gefahren, Perspektiven und Grenzen touristischen Wachstums“ der türkischen Tourismusentwicklung zu informieren.
Der Tourismus gilt als einer der großen Hoffnungsträger der türkischen Wirtschaft. In einer Strategiestudie des türkischen Arbeitgeber- und Industriellenverbands TÜSIAD wird ihm gar eine Lokomotivfunktion für die gesamte wirtschaftliche Entwicklung der nächsten zehn Jahre zugeschrieben. Nach dem Militärputsch 1980 schlug die eigentliche Geburtsstunde des türkischen Fremdenverkehrs. Da waren die Mittelmeerländer Spanien und Italien für den Pauschaltourismus schon längst „aufbereitet“. Das Tourismusförderungsgesetz von 1982 sah eine Reihe von „Sonderermutigungen“ für touristische Investitionen vor: Nur geringe Pachtbeträge für vom Staat auf neunundvierzig Jahre verpachtete Grundstücke; völlige Zollfreiheit von Importgütern; Subventionen und Steuererleichterungen.
Investitionslüsterne Bauhaie nutzten die Gunst der Stunde. Es machte Boom, Boom. An der türkischen Ägäis und Riviera entstanden im Schnellverfahren Hotelkomplexe und Ferienanlagen (sie wurden oft in drei, vier Jahren abgeschrieben!). Und die touristische Landkarte bekam Namen: Bodrum, Marmaris, Antalya. Das „Erfolgsmärchen“ der späten, aber rasanten Aufbruchstimmung: in den letzten zehn Jahren haben sich die touristischen Betten (staatlich lizensierte und nicht lizensierte) von achtzigtausend auf fünfhunderttausend erhöht; von 1978 bis 1993 haben sich die Touristenzahlen mehr als versechsfacht (von einer auf 6,5 Millionen); im gleichen Zeitraum sind die Einnahmen aus dem Tourismus von zweihundert Millionen US-Dollar auf vier Milliarden gestiegen. Der Tourismus avancierte zur drittgrößten Wirtschaftsbranche. Inzwischen macht er 3 Prozent des Bruttosozialprodukts aus und realisiert 25 Prozent der Exporterlöse.
Der Trend geht auch in der Türkei zu anonymen Ferien-Großanlagen. Die 8.333 Kilometer lange türkische Küste mit herrlichen Sandstränden „droht durch die zunehmende Häufung derartiger Großprojekte ein ähnlicher touristischer Spekulations- und Verbauungskollaps wie an vergleichbaren Urlaubsregionen am Mittelmeer“, diagnostiziert der Tübinger Geograph Dr. Höhfeld. Manche Küstenabschnitte am türkischen Mittelmeer sind eine einzige langgezogene Baustelle. „Bodrumlasma“ („Bodrumisierung“, nach der Verwandlung des ehemaligen Fischernests Bodrum in eine einzige Highlife-Touristenzone) ist zur erkennungsdienstlichen Vokabel für eine extrem touristische Siedlungsexpansion geworden. Die negativen Folgen der planlosen Betonwucherung sind zu besichtigen: „Landschaftszersiedlung, Vernichtung von Agrarland, Probleme mit Abfällen und Wasserversorgung, Verzerrung des Grundstücks-Preisgefüges, regional unkontrollierte Zuwanderung“ (Höhfeld).
In Belek soll alles anders, besser, attraktiver werden. Das neue Feriendorf, knapp 50 Kilometer von Antalya entfernt, ist der ganze Stolz des Tourismusministeriums: Ein von A bis Z durchgeplantes Touristenghetto mit staatlich strikt durchgeführter und kontrollierter Bauplanung. Kein Minarett weit und breit! Erst wurde die Infrastruktur vom Staat bereitgestellt (Stromnetz, Wasserversorgung, Abwasserentsorgung durch zentrales Klärwerk, Anlage von Straßen, Häuser für Bedienstete), dann konnte das erste Hotel öffnen. „Ein Sandkastenspiel mit perfekten Rahmenbedingungen Sand, Dünen, Wald“, schwärmt Rüdiger Fölske, Geschäftsführer der Iberotel-Kette Türkiye (TUI-Tochter). Einundzwanzig Vier- und Fünf- Sterne-Hotels (türkische Sterne!) internationaler Ketten mit im Schnitt 650 Betten pro 80.000 Quadratmeter Grundstück, verteilt über einen 20 Kilometer langen Sandstrich. Gesamtkapazität im Endstadium: 15.000 Betten. In unmittelbarer Nachbarschaft eine Art Naturschutzgebiet mit Pinienwald. Sage und schreibe fünf geplante Golfplätze! Und am Horizont die schneebedeckte Kette des Taurusgebirges. Touristenherz, nun freue dich!
Auch Yusuf Örnek von der AKSET-Stiftung für Kultur, Kunst und Tourismusforschung in Antalya ist von Architektur und Top- Qualität der Hotels angetan. Doch hinter den Traumkulissen der modern durchgestylten Feriensiedlung sieht der Sozial- und Tourismusforscher auch das „Problem Belek“: So verkauften zum Beispiel neunzig Familien aus Dörfern im Hinterland ihre Grundstücke, investierten in Taxis, um die Belek-Gäste durch die Gegend zu kutschieren. Doch die Hoteliers hatten ihnen falsche Hoffnungen gemacht, weil der Gäste-Transfer der Großveranstalter wie Neckermann und TUI über örtliche Agenturen abgewickelt wird. Aus Frust verprügelten die Taxifahrer die Reiseleiter. In einigen Dörfern haben im letzten Winter Einheimische ihre Häuser niedergerissen und Läden errichtet, in der Hoffnung, daß die Touristen den Weg aus dem Ferien„dorf“ in ihr Dorf finden werden.
Dazu kommen tausend Zweitwohnungen, die allein neben dem Dorf Belek mit 1.200 Einwohnern stehen. Endlose Fluchten stereotyper Reihenhäuser, Hunderte von Metern lang, zu Stein gewordene Kornfeldreihen. Leblose Ferienhauskomplexe, die zehn bis elf Monate im Jahr leerstehen. Besonders der türkische Mittelstand organisiert sich in Kooperativen, beauftragt Bauträger und investiert so sein Geld auf der Flucht vor der hohen Inflationsrate (zur Zeit mindestens 70 Prozent) in die Immobilie „Zweitwohnung“. Die geschätzten hunderttausend Zweitwohnungen (500.000 Betten) verursachen einen zusätzlichen touristischen Druck auf die Küstengebiete. Zumal die politisch Verantwortlichen nach wie vor der heiligen touristischen Trinität „Betten, Devisen, Touristen“ frönen. Örnek fordert eine Abkehr vom jetzigen eindimensionalen Denken und will auch die Einheimischen in den Planungsprozeß einbeziehen. Doch das Wort Sozialverträglichkeit ließe sich nicht einmal ins Türkische übersetzen.
Wo liegen die Grenzen des touristischen Wachstums in der Türkei? Eine Million Betten, dreizehn bis vierzehn Millionen Touristen, zehn Milliarden US-Dollar-Einnahmen. Das sind die Zielvorgaben, die der Zahlenakrobat und türkische Tourismusminister Ates für das Jahr 2000 anpeilt. Natürlich
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„ohne das ökologische Gleichgewicht zu stören“, versichert Ates. Bis vor wenigen Jahren war Umweltschutz noch ein Fremdwort in der Türkei. Seit Dalyan nicht mehr. Dort, an der türkischen Südküste zwischen Marmaris und Fethiye, vereitelten deutsche und türkische Naturschützer (besonders die Aktionsgemeinschaft Artenschutz und der türkische Naturschutzverein DHKD) ein mit deutschen Entwicklungsgeldern bereits begonnenes Hotel-Mammutprojekt, damit die seltene Meeresschildkröte Caretta Caretta weiter in Ruhe ihre Eier im Sand vergraben kann. Die türkische Regierung erklärte die Dalyan-Bucht zum Sonderschutzgebiet. Flugs schwebte ein deutscher Umweltengel herbei, um mit seinem „Modell Strelo“ Tourismus und Naturschutz zu versöhnen und als Dalyan-Spezialveranstalter im Einklang mit der Natur seine Geschäfte zu machen.
Doch dem Baustopp im Namen der Schildkröte war nur ein kurzfristiger Erfolg beschieden. Seit Dalyan durch den Medienrummel weit über die Grenzen berühmt wurde, ist „das Publikum scharf auf die Caretta Caretta geworden (ein Bewohner von Dalyan). Die Folge: ein beinharter Tagestourismus. Heute pilgern im Sommer täglich dreitausend Touristen aus den großen Touristenzentren auf den Spuren der Schildkröten. Sie lassen sich in Motorbooten zwischen dem Dörfchen Dalyan und dem „Schildkrötenstrand“ Iztuzu durch das sumpfige Dalyan-Flußdelta, eines der sensibelsten Ökotope der Türkei, schippern. „Vor der Schildkrötensache waren nur fünfundzwanzig Boote im Schilfgebiet unterwegs. Heute sind es in der Hochsaison dreihundert“, erzählt Cemal Kiydan, Chef der Bootskooperative.
Die ökologische Zwischenbilanz ist eindeutig negativ: Die Massen von Motorbooten zerstören durch den Wellengang das Schilfgebiet, Müllberge bedecken immer größere Schilfzonen, viele neue Hotels und Pensionen leiten mangels einer Kläranlage ihre Abwässer ungeklärt in den Fluß.
Das avisierte Vorzeigeprojekt Dalyan kippte um. „Die Profitgier der einheimischen Behörden und Geschäftsleute an den in Massen herbeiströmenden meist deutschen Touristen ließ das Dörfchen Dalyan zu Land und zu Wasser explodieren“, attackiert die deutsche Arbeitsgemeinschaft Artenschutz enttäuscht. „Die Regeln sind noch etwas elastisch im Naturschutzbereich“, formuliert Nergis Yazgan vom türkischen Naturschutzverein DHKD. Ein Management-Plan müsse her, um endlich regulierend eingreifen zu können und alle touristischen Aktivitäten mit dem Ökosystem verträglich zu gestalten. Doch das für Sonderschutzgebiete wie Dalyan zuständige Sonderschutzamt SPA verstehe sich nur als Planungsinstanz und verfüge über keinen „Durchsetzungsmechanismus“.
Heute leben 70 Prozent der Einwohner Dalyans vom Fremdenverkehr. „Unter den Bewohnern von Dalyan gibt es schon eine „unterschwellige Aversion gegen die Schildkröten“, will Tourismusforscher Örnek erkannt haben. Zuviel Rücksicht auf die Schildkröten? Zuwenig Rücksicht auf die Menschen? Oder umgekehrt? Das Verhältnis von Tourismus und Naturschutz in Dalyan ist spannungsgeladen. Von einem „Modell“ eines umwelt- und sozialverträglichen Tourismus kann hier keine Rede mehr sein.
Literaturtip: Gaby Fierz/Anne- Lise Hilty/Marion Mordey (Hrsg.): Türkei Ferienland – Fluchtland. „Kleine Reihe Tourismus & Entwicklung“, Band 6, Rotpunktverlag, Zürich 1992
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