Mit Rotem Quecksilber zur Neutronenbombe

■ Ex-Sipri-Chef Frank Barnaby hat in Rußland den Bombenstoff gefunden

Stockholm (taz) – Der mysteriöse Stoff „Rotes Quecksilber“ existiert. Davon ist Frank Barnaby, ehemaliger Chef des Stockholmer Friedensforschungsinstituts und Atomwaffenexperte nach einer Forschungsreise durch Rußland überzeugt. Barnaby, bisher ausgewiesener Skeptiker, was diesen Stoff angeht, hat eine Produktionsstätte im russischen Jekatarinburg besucht und mit mehreren Wissenschaftlern gesprochen: „Diese Wissenschaftler haben mir auf technisch nachvollziehbare Weise den Produktionsprozeß beschrieben. Auch wenn sie gewisse Einzelheiten, wie die genaue chemische Zusammensetzung einiger Katalysatoren, die man für die Produktion braucht, verschwiegen haben, sehe ich keinen Grund, an den Angaben zu zweifeln.“ Ein entsprechender britischer Fernsehfilm soll morgen in der ARD gezeigt werden.

Anfang 1992 geisterte die neue Bedrohung aus dem Osten erstmals durch die Medien: Rotes Quecksilber sei über dunkle Kanäle auf Abwege geraten und werde aus Rußland in den Westen geschmuggelt. Was das Wunderzeug genau sein sollte, war zwar nicht klar, jedenfalls war es zum Bau von Atombomben zu gebrauchen. Seither geisterte der sündteure Stoff – ein Kilo soll eine halbe Million Dollar kosten – immer mal wieder über Zeitungsspalten und Mattscheiben. Bis im letzten Jahr westliche Geheimdienste plötzlich Entwarnung gaben: Das Rote Quecksilber sei nichts als ein gewaltiger Geschäftstrick, hinter dem die russische Mafia stecke.

Mag sein, daß sich auch pfiffige Geschäftsleute mit dem ein oder anderen Stoff, den sie als „Rotes Quecksilber“ ausgaben, eine goldene Nase verdienten. Doch die eigentlichen Nebelwerfer sind für Barnaby die westlichen Geheimdienste: „Es gibt drei gute Gründe, warum sie die Existenz der Substanz zu leugnen suchen: Zum einen wollen sie nicht eingestehen, daß russische Experten einen Vorsprung haben. Zum anderen wollen sie nicht Boris Jelzin in Schwierigkeiten bringen durch den Vorwurf, er habe die Verbreitung von Rotem Quecksilber zu verantworten. Und zum dritten wird meines Wissens derzeit auch in den USA daran gearbeitet, Rotes Quecksilber zu produzieren.“

Frank Barnaby weiß auch nähere Einzelheiten zu dem mysteriösen Stoff: Grundstoff sei eine Antimon-Quecksilber-Verbindung, die bereits 1968 von der US- Chemiefirma Du Pont entwickelt worden sei. Zusammen mit metallischem Quecksilber und einem chemischen Katalysator werde es in einem Atomreaktor bestrahlt und nehme dadurch einen geleeförmige Zustand ein. Diese Substanz habe eine bislang einmalige Sprengkraft: 300fach stärker pro Gewichteinheit, als jeder andere bislang bekannte Sprengstoff.

Laut Barnaby ist es genau diese Sprengkraft, die es ermöglicht, das Tritium einer kleinen Neutronenbombe so zusammenzupressen, daß ein Fusionsprozeß in Gang kommt. Auch der Vater der amerikanbischen Neutronenbombe, der Physiker Sam Cohen, hält es für möglich, daß die Russen über eine solche Bombe verfügen. Rotes Quecksilber fällt ebenso wie Tritium bislang nicht unter das Abkommen zur Nichtweiterverbreitung von Kernwaffenmaterialien. Laut Barnaby eine gefährliche Regelungslücke, die schnell geschlossen werden sollte.

Eine italienische Untersuchung zum Schmuggel Roten Quecksilbers über Italien nach Libyen, die von dem Richter Romano Dolce geleitet wird, will Beweise dafür gefunden haben, daß mindestens 200 Kilogramm Rotes Quecksilber tatsächlich in Libyen angekommen sein sollen. Das Land hat angeblich rund 100 Millionen Mark gezahlt. Auch in den Iran, den Irak und nach Israel soll Rotes Quecksilber verkauft worden sein. Dolce will Beweise dafür haben, da es einen stetigen Handel mit Roten Quecksilber aus russischer Produktion gibt. Wegen möglicher außenpolitischer Komplikationen versuchten aber die westlichen Geheimdienste, die Gefahr zu leugnen.

Frank Barnaby hält es gegenwärtig für nicht vorstellbar, daß Terrororganisationen in der Lage wären, mit Hilfe des Roten Quecksilbers eine Fusionsbombe zu bauen: „Wohl aber eine große Anzahl von Ländern, die über die technische Basis verfügen oder sich russische Experten verpflichtet haben. Das Thema Rotes Quecksilber muß umgehend auf die Tagesordnung. Reinhard Wolff