„Mehr als erschießen können sie uns nicht“

Wehrmachtsoffizier Max Liedtke rettete Juden vor der SS / Posthume Ehrung durch Yad Vashem  ■ Von Manfred Otzelberger

SS-Hauptsturmführer Martin Fellenz war tief befriedigt nach ordentlich getaner Arbeit: „Die Aktion verlief planmäßig und ruhig. Einige Juden, die versuchten zu flüchten oder Widerstand zu leisten, wurden erschossen. In Erkennung der richtigen Lage wurde überall bestimmt und hart zugefaßt“, notierte er kühl am Abend des 27. Juli 1942 in einem Aktenvermerk zur „Aussiedlung“ von 3.850 Juden aus Przemysl, einer Stadt an der polnisch-ukrainischen Grenze. Was der SS-Funktionär hervorhob, war die „besonders gute Zusammenarbeit“ mit Kreishauptmann, Stadtkommissar und Sicherheitspolizei.

Ein Besatzer fehlte wohlweislich in dieser lobenden Aufzählung: Ortskommandant Max Liedtke. Der hohe Wehrmachtsoffizier, erst kurz vorher aus dem griechischen Piräus in das polnische Przemysl versetzt, hatte am Tage zuvor alles getan, um SS und Sicherheitspolizei an der reibungslosen Judenverschleppung in das Konzentrationslager Belzec zu hindern. Major Liedtke ging so weit, für ein paar Stunden die Brücke zum Judengetto auf der anderen Seite des Flusses San sperren zu lassen, nachdem den zum Abtransport anstehenden Juden tags zuvor die roten Wehrmachtsausweise abgenommen wurden.

Ein im Zweiten Weltkrieg einmaliger Konflikt zwischen Deutschen und Deutschen bot sich auf der Brücke: Nur Wehrmachtsangehörige, polnische Zivilisten und jüdische Arbeiter durften noch passieren, sämtliche Fahrzeuge der Polizei und Waffen-SS wurden nicht durchgelassen oder gar mit Maschinenpistolen bedroht. Auf einige der SS-Leute, die den Fluß durchwateten oder mit einem Boot überquerten, schossen die Soldaten sogar. Eine schwer erträgliche Provokation für die „äußerst erregten“ SS-Männer, die sich nach internen Schilderungen „zusammenreißen mußten“, damit es nicht zu einer „Schießerei“ zwischen Wehrmacht und Polizei kam. Was die Schande noch vergrößerte: Eine „mehrhundertköpfige Menschenmenge, die diesem seltsamen Schauspiel des Kampfes der Wehrmacht gegen die Polizei zuschaute“, hatte sich auf beiden Seiten des San-Ufers angesammelt.

„Nachdem sich nunmehr bei der nichtdeutschen Bevölkerung herumgesprochen hat, daß die Sperrung der Brücke wegen der Judenaussiedlung erfolgte, konnten sie es nicht verstehen, daß sich die Deutschen Dienststellen unter sich nicht einig sind und die uniformierte Polizei die Brücke nicht betreten durfte“, grollte SS-Untersturmführer Benthin.

Auch sein Vorgesetzter Martin Fellenz, der Liedtke nach der Brückensperrung mit dem Einsatz des gefürchteten SS-Bataillons aus Debica drohte, schäumte und nahm den unbotmäßigen Major ins Gebet: „In einer persönlichen Aussprache mit Major Liedtke habe ich ihm im Auftrag des SS- und Polizeiführeres mitgeteilt, daß seine Maßnahmen wie Sperrung der Brücke usw. auch nach Einvernehmen mit der Oberfeldkommandantur weder berechtigt noch befugt waren. Die gesamte Aktion ist eine Polizeiaktion und geht die Wehrmacht gar nichts an.“

Liedtke, ein in militärischen Termini gewiefter Frontkämpfer aus dem Ersten Weltkrieg, berief sich auf zwei Führerbefehle, wonach die Belange der Wehrmacht bei Streitigkeiten mit Zivilstellen Vorrecht hatten. Den ungewöhnlichen Einsatz für die ihm anvertrauten „Wehrmachtsjuden“ versuchte der Pfarrerssohn, der, obwohl deutsch-national eingestellt, nie NSDAP-Mitglied war, damit zu rechtfertigen, daß er Arbeitskräfte für die Kriegsmaschinerie brauche. Die geplante Vernichtung der jüdischen Arbeitssklaven würde auf „eine Sabotage der Wehrmachtsarbeit“ hinauslaufen, weil ,arische‘ Arbeiter nicht vorhanden seien. Die Juden seien schon allein dadurch für die Versorgung der Ostfront kriegswichtig, daß sie beim Entladen von Lazarettzügen in Przemysl, dem Eisenbahnumschlagplatz zwischen europäischer Normalspur und russischer Breitspur, helfen. Für den Berliner Historiker Peter Steinbach, der als Leiter der Berliner „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ den Fall Liedtke für „ebenso unbekannt wie bedeutend“ hält, „mit Schindlers Zivilcourage durchaus zu vergleichen“, war das „natürlich ein taktisches Argument, ein glänzender semantischer Trick, um möglichst viele Juden vor der tödlichen Umsiedlung zu bewahren“.

Ein Schacher um Menschenleben begann. Die zur „Endlösung der Judenfrage“ entschlossene SS wollte nur jüdische Arbeiter zwischen 16 und 35 Jahren und „unersetzliche Spitzenarbeiter“ vor dem KZ ausnehmen. Die Wehrmacht wurde kritisiert: Sie würde die „Arbeitsjuden“ nicht produktiv genug einsetzen und „in überaus großer Zahl den sogenannten Haus- und Hofjuden züchten, der als Stubenreiniger und Schuhputzer für den Herrn Unteroffizier gebraucht wird“.

Was die SS noch mehr erboste: Der unkooperative Major Liedtke hatte auf Lastwagen achtzig bis hundert Juden ausgerechnet in die Ortskommandantur bringen lassen. Sein Adjutant, der Oberleutnant Alfred Battel, hatte den Überraschungscoup eingefädelt. Das Wehrmachtsquartier, so ein SS-Mann entsetzt, glich „einem jüdischen Heerlager“, auch „eine Anzahl jüdischer Orndungsdienstmänner“ war anwesend, ganz so, „als hätten die Juden sich in den Schutz dieser Wehrmachtsdienststelle begeben“.

Das war kaum zu glauben, aber ganz richtig beobachtet. Bei Battels Spruchkammerverfahren 1948 bestätigte der Zeuge Friedrich Grün die Vorgänge: „Meine Herren, wir riskieren den Kopf, denn das, was wir tun, geht gegen einen ausdrücklichen Führerbefehl. Aber mehr als erschießen können sie uns nicht“, sagte Ortskommandant Liedtke vor Offizieren.

Das Verhältnis zwischen SS und Wehrmacht verdüsterte sich nun immer mehr. Bei kriminellen Aktionen von Juden mußte die SS demütigenderweise erst das Einverständnis der Ortskommandantur einholen, um einzugreifen. Die kasernierten Wehrmachtsjuden standen unter militärischem Schutz. Sogar eigene Judenräte sollten sie bestimmen dürfen. Im Bericht eines konsternierten SS-Mannes heißt es: „Major Liedtke gab bekannt, daß die Wehrmachtsjuden innerhalb der jetzigen Gettos geschlossen untergebracht werden. Er äußerte sich wörtlich, daß er im Rahmen seiner Zuständigkeit eine jüdische Gemeinde aufbauen werde, die mustergültig sein wird.“

Daraus wurde nichts. Zum 1. Oktober 1942 wird der SS-Schreck und Judenfreund Liedtke zur Ersten Panzerarmee, Heeresgruppe A im Kaukasus, versetzt. Dann verliert sich seine Spur ebenso wie die der Przemysler Wehrmachtsjuden, die vermutlich später doch im KZ landen. 1944 sieht ihn sein Sohn Götz, der 1992 mit einer „dokumentarischen Erzählung“ das Leben seines Vaters würdigte, zum letztenmal. „Junge, der Krieg ist verloren“, weiß der Vater da schon. Auf dem Rückzug über Danzig landet Liedtke senior in Bornholm, wo er von der Roten Armee interniert wird und in russische Kriegsgefangenschaft gerät. Das ist sein Ende: zwei Jahre Einzelhaft, Dauerverhöre, Folter. Die Russen interessieren sich nur für seine Funktion als Ortskommandant, nicht für seine Judenrettung. 1948 meldet der ostdeutsche Rundfunk das Todesurteil wegen angeblicher Kriegsverbrechen. Dann wird Max Liedtke begnadigt: lebenslängliches Arbeitslager in den Kohlegruben von Workuta, später Verschleppung in die Nähe von Swerdlowsk, wo er sich mit dem Schreiben von drei Romanen geistig über Wasser hält. Aber der Körper ist am Ende. Am 2. Februar 1955 wird Götz Liedtke zum Postamt zitiert: Sein Januarpaket an den Vater ist zurückgekommen. Mit Bleistift ein Vermerk: „Verstorben 13. Jan.“

Eine offizielle sowjetische Nachricht kam bis heute nicht. „Er ist irgendwo im Ural verscharrt, kein Hahn kräht nach ihm“, meint sein 67jähriger Sohn, der erst als pensionierter Zollbeamter die Zeit fand, das Leben seines Vaters zu recherchieren. Götz Liedtke ist sich sicher, daß sein Vater Max, ein gelernter Journalist, der als Chefredakteur der Greifswalder Zeitung von den Nazis abgelöst wurde und später als Verleger einer kleinen Kunstzeitschrift Kontakt zu jüdischen Abonnenten hatte, schon vor dem Krieg Juden gerettet hat: „Wir haben zwar in der Familie nie über Politik gesprochen, weil Vater uns schützen wollte. Viermal im Jahr ist er aber angeblich zur Kur ins schweizerische Arosa, dem Treffpunkt der emigrierten Juden. Einen jüdischen Kinderarzt mit seiner Familie hat er auf jeden Fall damals aus Berlin mitgenommen.

Die posthume Ehrung der Leistung seines Vaters, die in keinem Geschichtsbuch steht, war überfällig. Im Januar 1994 verlieh die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Max Liedtke den Titel „Gerechter unter den Völkern“, den sein Adjutant Alfred Battel schon 1981 verliehen bekommen hatte. „Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt“, steht auf der Medaille, die Gedenkstätten-Direktor Mordecai Paldiel Götz Liedtke überreichte. Paldiel machte auf die Einzigartigkeit des Falles Liedtke aufmerksam: „Dieser Mann ist der ranghöchste Wehrmachtsoffizier, der hier in Yad Vashem geehrt wird. Ich habe noch von keinem Helden in einem ähnlichen Fall gehört.“ Und der Auschwitz-Überlebende und spätere Eichmann-Jäger Michael Gilead, der als Jude in Przemysl Liedtkes Menschlichkeit miterlebte, benutzte das geschichtliche Beispiel des deutschen Offiziers sogar bei den Verhören von Adolf Eichmann, um dem Schreibtischtäter nachzuweisen, daß nicht jeder Deutsche zum Mörder werden mußte, weil ein Vorgesetzter es befahl. Götz Liedtke stimmte ihm in seiner Rede unter Tränen zu: „Wir mußten nicht Verbrecher sein und hätten Leben retten können. Viele haben versagt, sich nicht ihrer Mitmenschen erbarmt. Ich würde sagen, sie waren keine Christen, obwohl sie sich so nannten.“

Eichmann wurde 1962 in Israel gehängt. Der Liedtke-Gegner und SS-Sturmbannführer Martin Fellenz stieg dagegen nach dem Krieg rasch zum Schleswiger FDP-Ratsherrn, Mitglied der Europa-Union und Kreischorleiter, auf. Erst 1963 wurde er wegen der Tötung von 39.300 Menschen angeklagt. Das kümmerliche Urteil: vier Jahre Zuchthaus wegen Beihilfe zum Mord in zwei Fällen. 31 Monate U- Haft saß er davon ab. Max Liedtke war da schon neun Jahre tot.

Götz Liedtke: „Vater Max“,

Karin-Fischer-Verlag, 17,40 DM