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Den Haager Asylgerüchte

■ Vor den niederländischen Wahlen werden die Politiker zu Populisten

Utrecht (taz) – Die Angestellten der Ausländerpolizei in Rotterdam wußten nicht, wie ihnen geschah: Anfang April standen plötzlich Hunderte „illegaler“ Pakistani vor den Toren ihrer Behörde, um sich ordnungsgemäß anzumelden. Den Besucherandrang hatte ein in Immigrantenkreisen kursierendes Gerücht ausgelöst, daß Illegale bei unverzüglicher Anmeldung eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten könnten. Ähnliche Gerüchte hatten zuvor in Den Haag und Amsterdam Hunderte von Türken und Pakistani auf die Beine gebracht. Doch bereits in den Wochen davor hatten eine völlig überhitzte Asyldebatte, schnell verabschiedete Ausländergesetze und die wachsende Fremdenfeindlichkeit viele Immigranten verunsichert. Vor allem Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung fürchten, daß ihnen nach den Wahlen am 3. Mai ein wesentlich schärferer Wind entgegenschlagen wird.

Seit die rechtsradikalen Centrumsdemokraten (CD) bei den Kommunalwahlen im März in einigen Großstädten mehr als zehn Prozent der Stimmen erzielen konnten, hat sich das politische Klima im Königreich drastisch verändert. Umfrageergebnisse prophezeihen für die regierenden Christ- und Sozialdemokraten bei den anstehenden Parlamentswahlen herbe Wahlverluste. Im Wahlkampf schlagen nun auch die etablierten Parteien zunehmend populistische Töne an.

1993 war die Anzahl der Asylanträge von 20.000 auf 36.000 gestiegen, in diesem Jahr rechnet die Regierung mit 70.000 Asylbewerbern. Als Mitte März der Chef der rechtsliberalen VVD, Frits Bolkestein, die Forderung erhob, nur europäische Flüchtlinge in den Niederlanden zuzulassen, löste er damit heftige Proteste aus. Wenige Tage später verabschiedete die schwarz-rote Regierungskoalition ein Paket von Sofortmaßnahmen, um sich unerwünschter Asylbewerber schnell entledigen zu können. Asylsuchende, die aus einem sicheren Land einreisen, werden unverzüglich wieder abgeschoben: Als „sicher“ gelten alle 31 Mitgliedstaaten des Europarats. Kommandos der Grenzschutzpolizei sollen nun im Grenzgebiet zu Belgien und Deutschland nach illegal einreisenden Ausländern fahnden – die Grenzkontrollen waren mit der Einführung des Binnenmarktes 1993 praktisch aufgehoben worden.

Wie sehr die Niederlande bereits vom Wahlkampffieber gepackt sind, zeigt auch ein Vorschlag des sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Wim Kok. Der amtierende Finanzminister plädiert dafür, noch in dieser Legislaturperiode einen eigenen Asyl- und Immigrations-Minister zu benennen – obwohl das Kabinett von Premier Ruud Lubbers nur noch wenige Wochen im Amt sein wird.

Neben den rechtsradikalen Centrumsdemokraten versteht sich vor allem die VVD als die Stimme des „gesunden Volksempfindens“. „Es kommen schon mehr Immigranten in die Niederlande als hier Kinder geboren werden“, sorgt sich VVD-Chef Bolkestein um die Zukunft des niederländischen Volkes. „Wir werden von Menschen mißbraucht, die nur von unseren Leistungen profitieren wollen“, schimpft der christdemokratische Abgeordnete Jan Kraijenbrink. Sozialdemokrat Aad Kosto, im Justizministerium als Staatssekretär für Asylfragen zuständig, heizt die Debatte gar mit Desinformationen an. Seine Aussage, daß minderjährige Flüchtlinge nur in die Niederlande, aber kaum nach Deutschland kommen, entpuppte sich als purer Unsinn: Baten 1993 1.500 Kinder in den Niederlanden um Asyl, landeten allein in Berlin und Hamburg 4.300 Kinder, die von ihren Angehörigen in ein Flugzeug nach Deutschland gesetzt worden waren.

„Die etablierten Parteien haben das rechtsextreme Gedankengut salonfähig gemacht“, kommentiert die Wochenzeitung HP/De Tijd den bisherigen Verlauf des Wahlkampfs – eine Einschätzung, die der Centrumsdemokrat Willem Elshout bestätigt: „Wir sind unheimlich froh über Bolkestein. Der macht Ausagen, für die wir vor einigen Jahren noch als Rassisten beschimpft wurden. Das erhöht unsere Akzeptanz beträchtlich.“ Thomas Roser

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