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Eine Rennbahn mit Pferdefuß

Seit Karlshorst nach der Wende in die Marktwirtschaft entlassen wurde, macht die 100 Jahre alte Bahn eine Roßkur durch, ohne zu wissen, ob sie nicht aufs falsche Pferd setzt  ■ Aus Berlin Cornelia Heim

„Junge Frau, Sie wollen doch nich etwa spielen!“ Der alte Mann mit Baskenmütze in der hohen Stirn schaut angewidert. Seit Stunden sitzt der 83jährige auf seinem Stühlchen in einer Ecke des Wettbüros, „ne, ne, da lassen Se mal lieber de Finger von.“ Und vertieft sich wieder in den Traberkurier, „mußt bloß schaun, wem det Pferd jehört, denn weeßte allet“, brummelt er zu seinem kaum jüngeren Tischgenossen. Fritz Stabbert hat sie gesehen, die Glanzzeit der Berliner Traber nach dem Krieg. Er schwärmt von der Milz-Dynastie, dem Traber-Professor Johnny, der seinen besten Hengst im Kuhstall unterstellte, großen Trainern aus großen Tagen. Vorbei.

Es gibt sie immer noch, die Rennbahnen in Berlin, gleich zwei in der Nähe von Köpenick – den Hoppegarten für die Galopper, Karlshorst für die Sulkies –, dazu Mariendorf (Traber), Grunewald und Ruhleben (Galopp). Fritz Stabbert: „Det is allet jleich jeblieben, nur die Mafia der Abzocker is jrößer.“ 60 Jahre lang hat der alte Mann gewettet – „mal hier nen Hunderter jewonnen, aber viel, viel mehr verloren“ –, bis die Erkenntnis reifte, „Jeld is teuer.“

Unter der Woche kommen die Experten, 500 etwa, am Wochenende viermal soviele Besucher, doch „das Stammpersonal bringt det meiste Jeld.“ Sabine Fietz, zuständig für die Rennleitung, rechnet mit: „130.000 Mark Toto-Umsatz am Dienstag, 200.000 samstags.“

Im Wettbüro mit dem ockerfarbenen Charme einer Bahnhofshalle der fünfziger Jahre hängt der Nikotinrauch bleiern unter der Decke. Das einzige, was an die neue Zeit erinnert, sind die Monitore. Die Stimme dröhnt durch Boxen, die vor Altersschwäche bis zur Unverständlichkeit das Gesagte schmerzvoll verzerren. Männer, das Gesicht vom Alkohol gerötet, laufen wie in Hypnose hin und her – raus auf die Tribüne, rein vor die graue, noch manuell betriebene Anzeigetafel, hin zum Stehpult mit den Wettscheinen drauf, dann zum Schalter, immer ein Papier vor Augen, oder einen Stift in der Hand. Eine Atmosphäre zwanghafter Betriebsamkeit. Der Nicht-Eingeweihte steht auf verlorenem Posten. Flaschenbier gibt's zwei Schritte weiter im „Zockertreff“.

„Jeld is teuer.“ Der alte Mann studiert den Traberkurier und wiegt sorgenvoll den Kopf: „Schwer bereut hab' ick det mit de Pferde.“ Sagt's mehr zu sich selbst. Von den Männern, die so zielstrebig kreuz- und querlaufen, hört keiner zu. Nur ab und an beugt sich jemand über die abgegriffene Spantischplatte: „Fritz, uff wen soll ick setzen, wat meenste?“ Fritz weiß immer Rat. – „Start in acht Minuten“, scheppert das Megaphon. In Karlshorst ist das Auto ein Pferdefuß. Mehr als eine Pferdestärke zählt hier nicht. So holpert das Vierrad im ersten Gang durch die Schlaglöcher, vorbei an heruntergekommenen Stallungen, undichten Dächern. Roßäpfel säumen den Weg, rechts weidet eine Stute in einer Koppel, die notdürftig von zusammengestückelten Schnüren vor dem Einsturz gerettet wird. Gerümpel stapelt sich, der Putz verabschiedet sich großflächig von den Wänden, die Farbe ist grau.

Hinter den Büschen grüßt das Reiterdenkmal aus dem Jahr 1925, an dessen Sockel die Zeit frißt. Wie an allem auf diesem Gelände, dessen morbide Atmosphäre einzig von der wärmenden Frühlingssonne abgemildert wird. Weit läuft der Blick in Karlshorst, die riesigen Ausmaße der Parkanlage – etwa sechsundsechzig Fußballfelder fänden darin Platz – zeugen von der Großzügigkeit längst vergangener Tage. Am 7. Mai wurde die Trabrennbahn 100.

Es gewann Rittmeister von Alvensleben auf „Cocktail“ – 1862. Ein Redakteur der Fachzeitschrift Sporn bediente sich einer Brieftaube, die das Resultat binnen vier Minuten nach Berlin brachte. Es war das erste Berliner Offiziers- Rennen auf den ehemaligen Ländereien des Rittergutes Friedrichsfelde. Das erste Trabrennen wurde 1894 ausgetragen. Mehr zur Erheiterung des Volkes. Bis 1944 war Karlshorst Zentrum des deutschen Hindernissportes. Erst aus den Trümmerhaufen des Zweiten Weltkrieges entstand Karlshorst, die Zweite, ein Trabergeläuf. 30.000 Augenzeugen erlebten im ersten Wettbewerb den Sieg von Hans Malnik, noch heute Trainer in Mariendorf.

„Wat? Hönemann schon wieder vor Zwiener?“ Die beiden Startrainer sahnen die Preisgelder ab. Und der alte Mann riskiert beim Einlauf in der Superslomo einen kurzen Blick auf den Mini-Fernseher über ihm. „Sie müssen schon schreien, junge Frau, ick hör' nich mehr so jut“, brüllt es unter der Baskenmütze gegen den Baß der Lautsprecherboxen an, „man vasteht ja nich, wat der hier sacht.“ Hinter der Tribüne blühen Stiefmütterchen blau und gelb. Am Geländer frißt der Rost. „Det is doch nich scheen!“ Sabine Fietz streicht unwirsch mit den Fingern übers Gestänge. Stiefmütterlich verwaist rottet der ehemalige Volkseigene Betrieb vor sich hin. „Früher, da hatten wir eenmal im Jahr eenen Einsatz, jeder mußte zehn Meter streichen, da war det eben jefleecht.“ Früher, das war in der DDR. Da war alles besser. In Karlshorst.

Nicht für alle. „Pferde“, Karl- Heinz Tierbach sagte es seinerzeit verächtlich, „alles, was mit Pferden zusammenhing, war bei der Partei- und Staatsführung verpönt: Junkertum, Großgrundbesitz, Militarismus.“ Thierbach wurde 1972 Chef der einzigen Trabrennbahn der DDR. Und da Pferde nicht abzuschaffen sind, und Menschen, die Pferde – mehr noch, Spiel und Wette – lieben, schon gleich gar nicht, habe sich jene untergegangene Welt entschlossen, die Rösser als „Bestandteil der gesellschaftlichen Entwicklung“ zu betrachten.

„Jeld is teuer.“ Die Pferde laufen nun ohne den alten Mann. Besser, ohne sein Geld. Denn: „Wat soll ick ooch zu Hause?“ So macht er sich montags auf nach Mariendorf, dienstags nach Karlshorst, samstags nach Karlshorst, sonntags nach Mariendorf. Und sitzt jedes Mal angewurzelt auf dem immer gleichen Holzstuhl, in einer Ecke des Wettbüros, absorbiert vom Traberkurier.

„Start des Rennens in sechs Minuten.“ Die Bahn könnte rentabler sein. „Es wird ja nich investiert.“ Der wackere Pferdeschwanz von Sabine Fietz, der sie einen Wessi vor die Nase gesetzt haben („wir Ossis sind ja nicht jut jenuch“) springt unruhig hin und her. Uwe John, der Geschäftsstellenleiter beispielsweise, logiert nun in modernen Möbeln, die sich seltsam absetzen vom übrigen Inventar aus der Requisitenkammer längst vergangener Zeit, doch selbst sein Büromobiliar ist bloß auf Pump, ausgeborgt von einer Bankfiliale.

Als der „Volkseigene Betrieb Trabergestüte und Trabrennbahn“ 1990 aufgelöst wurde, sah die Treuhand zu, die Trabrennbahn Mariendorf, im gutsituierten Westbezirk der Stadt, griff als Pächterin zu. „Um die Konkurrenz aus dem Osten zu kontrollieren“, schimpfen die einen. Andere sind froh, „daß es wenigstens irgendwie weiterjeht.“ Also siecht Karlshorst vor sich hin. In Erwartung des Todesurteils. Oder des Gnadenstoßes. Denn immer noch sind die Besitzverhältnisse unklar. Die Verhandlungen dauern seit vier Jahren an. Zwei Investoren haben sich auf die Ausschreibung der Treuhand beworben. Es handele sich um das größte zusammenhängende Gelände inmitten der Großstadt, erklärt der zuständige Treuhand- Abteilungsleiter für Landwirtschaft und Forst. Weiter ahnungsvoll: man müsse sich vor Bauspekulanten in acht nehmen. Sagt er. Und: Das kann dauern. Klar ist, die dringend nötigen Investitionen in zweistelliger Millionenhöhe kann der Rennbetrieb nicht erwirtschaften. Ein Teil des Areals müsse gewinnbringend „umgewidmet“ werden. Nur wie? Einen gültigen Bebauungsplan gibt es nicht. Außerdem liegt die Rennbahn in einem Wassereinzugs- sowie Landschaftsschutzgebiet, Teile stehen unter Denkmalschutz. „Wir rechnen mit einer Entscheidung bis Ende des Jahres.“

„Sie wollen doch nich etwa spielen!“ Der alte Mann spricht mehr zu sich selbst: „Mich hat eine Trainers-Tochter verführt.“ Damals, vor 60 Jahren sei's gewesen. „Nee, junge Frau stürzen Se sich nich ins Unjlück!“ – „Früher liefen hier 400 Pferde“, erzählt Gerhard Mutschischk, der soeben wieder einmal aufs falsche Pferd gesetzt hat. Jedes einzelne hat der 62jährige gekannt: „Ick hat sie fein säuberlich im Karteikasten aufbewahrt.“ Wußte, welches Pferd bei welchem Fahrer, auf welchem Boden welches Ergebnis gelaufen ist. „Heute jeht dit nich mehr.“ Pferde kommen, Fahrer gehen.

Früher, da arbeiteten auf Karlshorst 320 Leute, heute sind es 13 Festangestellte. Die 20 staatseigenen Trainer wurden mit der Wende in die Marktwirtschaft entlassen. Die Umstellung – eine einzige Roßkur. „Wat hätt ick ooch anderes machen sollen, als mit de Pferde?“ Micha Schenk ist 51 und seit 30 Jahren Trainer. Neun Pferde hat er heute im Stall stehen, darunter vier eigene. Die Kosten sind fix: rund 500 Mark im Monat pro Paarhufer. Die Einnahmen ungewiß. „Arabell“, er tätschelt den Hals der Stute, „hat in den letzten zwei Monaten 8.000 Mark eingefahren.“ Aber zwei Jahre lang habe er nur investiert. Wohlwissend, „ein guter Trainer ist nur einer, der ein gutes Pferd hat.“

„Zwee Autos hätt' ick heute, een Haus, mindestens“, sinniert der alte Mann weiter, „hätt' icke nie mit de Pferde jespielt!“ – „Start in einer Minute“ – „Schade wär et, wenn se dit hier zubetonieren“, sagt eine 60jährige, einer der wenigen weiblichen Besucher auf der heruntergekommenen Tribüne in Karlshorst. Ihre Hand umschreibt einen großen Bogen um das Gelände, „was nützt uns der Bundestag? Wir wollen Sport!“ Daß es im Moment wichtigere Aufgaben im Osten gibt als die Sanierung einer Rennbahn? Straßen! Wohnungen! „Nee, nee“, wehrt die ergraute Frau ab, „dit sehen Se nich richtich“ – „Wir wollen ooch unser Verjnüjen!“. Start jetzt.

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