: Wenn die Einsamkeit drückt
■ Boris Jelzins Tagebuchaufzeichnungen kommen wie Memoiren daher, obwohl er noch in Amt und Würden ist/ Sentimentalität als Beweis von Menschlichkeit?
Das Volk liebte ihn damals, als Boris noch nicht Präsident Rußlands war. In den „Aufzeichnungen eines Unbequemen“ 1990 schrieb er über sich, was er zu sein glaubte und was das Volk an ihm liebte. Ein Ritter ohne Furcht und Tadel, den es nicht zum Adel drängte, dafür umso mehr, das verlogene, marode Sowjetsystem zu Grabe zu tragen. Einfach und bescheiden, ein Robin Hood in der Uniform einer kriminellen Vereinigung, kämpfte er immer auf einsamem Posten. Doch in der Gewißheit, die Seele des einfachen Volkes sei mit ihm. Sein ganzes Leben war er der Antiheld, dem die Sympathien zuflogen. Sein ganzes Leben stand etwas über ihm, wogegen er sich zu beweisen hatte: die Mutter, der vom Lagerleben zerfressene Vater, der den Sohn prügelte, die Partei ... Jetzt steht er selbst dort, wo über ihm nichts mehr ist. Und Boris schaut dennoch nach oben. Er bittet um Absolution für die Fehler, die er begangen hat.
Jelzins Vorab-Memoiren sind alles andere als die üblichen wohl gesetzten Erinnerungen, die stilistisch hochgeschraubten Nichtigkeiten eines Mannes, der sich „zu mehr berufen fühlte“. Noch ist er amtierender Präsident. Und er wagt ein öffentliches Eingeständnis seiner Unzulänglichkeiten.
An Mut mangelte es Jelzin nie. Indes leitet ihn nun nicht mehr der Tatendrang des hemdsärmeligen Politikers, des Gladiatoren, der Provinzfürsten den Fehdehandschuh hinwirft. Der dem Volk imponiert, da er abrechnet, wie es dies selbst gerne hätte. Jelzin legt sein Inneres frei, geradezu quälerisch nimmt er sich selbst in die Mangel. Nun, da er oben angelangt ist, versagt ihm das Volk die im tiefen Vertrauen gewährte Gefolgschaft. Jedenfalls leistet es sie nicht mehr kritiklos. Das zehrt und nagt an ihm. Er möchte nicht wahrhaben, daß es ihm genauso geht wie allen Herrschern Rußlands vor ihm. Ob böser oder guter Zar: Das Volk wendet sich ab. In den Verfehlungen sieht es die Systematik der verselbständigten Macht am Wirken. Damit möchte es nichts zu tun haben.
Das Fesselnde an den Aufzeichnungen ist, daß Jelzin seine Leser mit zu seinen Enttäuschungen nimmt. Wahrscheinlich geschah dies nicht einmal willentlich. Den Kontrapunkt zu den hunderten Details summt die traurige zweite Stimme. Sie beklagt die Trennung des Präsidenten vom alten Boris – in letzter Konsequenz die Absonderung vom Volk. Rührende Einzelheiten – über anfängliche Ängste, gegen das Protokoll zu verstoßen oder zaghafte Lernschritte seiner Frau Naina auf öffentlichem Parkett – sollen ihre Herkunft in Erinnerung rufen.
Sentimentalität wird zum Beweis des Menschseins, das ist in Rußland ein archetypischer Grundkonsens. Dem Demokraten Jelzin macht es schwer zu schaffen, daß nicht alle Menschen seine Aufrichtigkeit anerkennen. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die er ermöglichte, stellt für ihn noch keinen Demokratiegewinn dar. Die Angst vor einem Rückfall treibt ihn um. Aus seiner Position läßt sich das nachvollziehen. Doch es belegt die Befangenheit, die er andererseits nicht zu verbergen sucht. „Die sozialistische Art zu denken wirkt bei uns allen nach. Von mir will ich schon gar nicht sprechen, bei mir ist ohnehin alles klar. Von den Parteikomplexen befreie ich mich nur unter Qualen.“
Jelzin holt nach, woran es seiner Führung immer gebrach. Er erklärt seine Politik: warum er Jegor Gaidar zum Chefarchitekten der Reformen erkor, der UdSSR 1991 den Todesstoß versetzte und warum er es für unumgänglich hielt, im letzten September das Parlament auseinanderzujagen. Doch die Aufklärung ex post facto gerinnt zur Rechtfertigung und bestätigt genau das, was selbst seine Anhänger zurück in die Winterstarre trieb.
Viele der Indiskretionen Jelzins öffnen den Blick auf die Zufälligkeit der Entscheidungsprozesse. Wie hilflos die Spitze manövrierte, welche Unwägbarkeiten den Einsatz der Spezialeinheiten im Herbst bis zur letzten Minute verhinderten. Bei alldem wird klar: Jelzin ist einsam, sehr einsam. Nur wenige Vertraute läßt er an sich heran. Gerade die Demokraten haben ihm reichlich persönliche Enttäuschungen zugefügt. Das Urteil über die russische Intelligenz fällt dementsprechend vernichtend aus, ohne den Kern der Sache zu verfehlen. Sie sei nicht bereit, sich für höhere Ziele einzusetzen. Die Stelle des engsten Vertrauten – neben den Frauen der Familie – besetzt Leibwächter Alexander Korschakow, dessen Weitsicht der Präsident unaufhörlich preist.
Trotz allem hat Jelzin nicht aufgegeben. Nur bescheidener ist er geworden. Er hat sich und sein Volk besser kennengelernt. Der Westen läßt sich importieren, aber nicht transplantieren. Selbstreflexion geht einher mit jeder Veränderung und Jelzin macht einen Anfang. Er baut auf Menschen, die es heute in Rußland schon gibt: die nicht auf fremde Hilfe warten, sich auf niemanden verlassen, weder auf die Regierung, noch auf das Parlament. Auch nicht auf Boris Jelzin. Ganz normale Menschen eben. Der Präsident will sie gesehen haben. Solange sie noch nicht die Mehrheit stellen, bleibt „die einzige Garantie der Ruhe – der Präsident selbst“. Klaus-Helge Donath
Boris Jelzin: „Auf des Messers Schneide – Tagebuch des Präsidenten“. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Siedler, Berlin 1994, 384 Seiten, 46 Mark
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