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Poem-Zapping

■ Thalia-Premiere: Tabori inszeniert Enzensbergers Spektakel „Delirium“

Der Enzensberger ist ein kluger Mann, belesen und beredt. Er hat ein großes Bücherregal und Aktenordner voller Manuskripte. Eines morgens, Hans Magnus befindet sich noch im Zenith eines Katers, rutscht der Dichter auf seiner Einkommenssteuererklärung aus und reißt beim Stürzen sein Bücherregal hernieder. Da fällt ein Eichen-dorff und ein Jandl, ein Brecht und ein Brentano, ein Savigny und ein Struwwelpeter und auch ein paar vom Herrn Schriftsteller höchstselbst vollgeschriebene Zettel auf den dicken Kopf. Und während der Enzensberger da in seinem Verhau sitzt und auf all die Bücher und Zettel blickt, entwickelt sich in seinem schlecht durchbluteten Alkoholgehirn eine tolle Idee: „Ich mach' was zu Delirium.“

Bis zum abend ist dann der Rausch vergessen und das Stück fertig: Ein Stapel Kopien aus den Büchern seiner erlesenen Bibliothek versehen mit einigen Regieanweisungen, nur tolle Texte von Kollege Zufall irgendwie ganz irre passend zusammengestellt. Danach braucht der Fachmann fürs deutsche Dichtererbe noch knapp drei Monate, um einen passenden Titel zu finden. Schließlich nennt er das Text-Konglomerat einfach Delirium - Ein Dichter-Spektakel und schickt es an seinen Verlag der Autoren.

Und dann noch: Welch ein Glück, daß man tatsächlich George Tabori, das weise Theater-Genie, in der Zeit des großen feuilletonistischen Silben-Monsuns über seinem Jubilaren-Haupt (80. Geburtstag) für die Uraufführung am Thalia-Theater gewinnen kann. Lauschte man bei der Premiere am Sonntag den Bravos, mußte man neidlos anerkennen: Nie war ein Wohlwollen-Präventiv wirksamer als hier. Im Taxi zum Erfolg. Hinten drin der Hans, vorn am Steuer der George, da ist es doch egal, wohin die Reise geht.

Und so kam es dann auch. Da gab es Texte (39) und Schauspieler (12), Regieeinfälle (Tschechovsche Bürger werden zu symphatischen Patienten) und ein Bühnenbild (Panorama-Terrasse an einem Gebirgssee). Da gab es Sinn und Unsinn, Gelungenes und Banales, Unterhaltung und Langeweile, Rohes und Gekochtes.

Und? Ja, das war es schon. Was erwarten Sie, wenn einer aus dem Privat-Staat der deutschen Literatur seinen lyrischen Geschmack eitel als Theaterstück verkauft? Und wenn ein rührender Theater-Vater Staatsschauspieler zu diesem Gedichten improvisieren läßt? Da kommt alles einmal vor, wird alles brav und liturgisch zubereitet und der Heiligenschein der Poesie kann sich furchtlos breit machen.

Natürlich kann es auch Spaß machen, ein wenig in lyrischem Treibgut zu wühlen, und das komische Talent einiger Ensemble-Mitglieder kann so voll zur Geltung kommen. Etwa wenn Sandra Flubacher „Die Geschichte vom fliegenden Robert“ aus dem Struwwelpeter ohne Vokale spricht, Sona Cervena über Churchill jandlt und Katharina Matz mit Stalinesken kontert oder im Publikum ein Theaterkritiker als „Plattkopf“ ausgemacht wird. Aber wenn man sich immer anhören muß, wie sich Deutschlands Bildungsbürger (hier anwesend) über das „hirntötende Geflimmer von Musikvideos“ und das Zappen durch Fernsehprogramme entsetzen, dann muß man sich doch fragen, wo hier der Unterschied ist. It's Poem-Zapping-Time!

Till Briegleb

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