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Im Sanatorium der modernen Poesie

■ Tabori inszeniert Enzensbergers Lyrik-Collage „Delirium“ in Hamburg

Am Ende wirft der Herr im Rollstuhl, der die ganze Zeit mit einer Reiseschreibmaschine auf den Knien Wahn und Sinn des Dichtens verkörperte, einige Blätter in die Luft: letzte Überbleibsel des Abends, den George Tabori am Hamburger Thalia Theater aus vierzig Gedichten, gefunden und montiert von Hans Magnus Enzensberger, komponiert hat. Der Epilog eine Grübelei über die Sprache: „Ein Wort in die Luft zu werfen / das Wort ,schwer‘ / ist leicht.“ Leicht schweben an diesem Abend die schweren Worte durch die Luft und verwandeln sich in flirrende Szenen.

Die Bühne: ein Flügel und zwölf Stühle auf einer leeren Terrasse, dahinter ein Rundhorizont mit bläulich-märchenhaftem Gebirge. Spätestens als die Damen und Herren aus dem Lyriklabyrinth vor Schreck erstarren, als aus der Ferne Fetzen einer Oper, gespielt auf einem alten Grammophon, ertönen und ein bedrohlicher Donner die Stille zerreißt, wissen wir, wo wir sind: auf der Terrasse des Sanatoriums in Davos, direkt am Zauberberg, Grand Hotel Abgrund. Die gepflegte Gesellschaft vom Beginn des Jahrhunderts legt ihre Kleidung ab und verwandelt sich in ein poetisches Patientenkollektiv in weißer Anstaltskleidung. Daß Wahn und Poesie gute Bekannte sind, hatten wir schon geahnt, als eine Dame, die eben noch voller Hingebung Stefan George deklamiert hatte, von einer anderen angefahren wird: „Spielst du verrückt, oder bist du verrückt?“ Wer nicht mehr ganz dicht ist, wird Dichter und verwandelt sein Leben in ein Spiel mit dem Abgrund: Poetry versus Nothing.

In Enzensbergers Sanatorium der modernen Poesie sitzen Gryphius und Hans Arp beieinander, als wären sie Zeitgenossen, Matthias Claudius wird zum Sparringspartner von Wladimir Chlebnikow, und Herr Goethe wird von einem gewissen Serenus M. Brezengang (ein Pseudonym Enzensbergers) verschaukelt: „Kreubst du das Land, wo die Zertissen breun / im dischen Lurb die Gonten- Schaffeln geun...“, gesungen, logischerweise, zu Schuberts Vertonung des Goethe-Gedichts. Nein, so kannte man das Land, wo die Zitronen blühn, im dunkeln Laub die Goldorangen glühn, bis jetzt eigentlich nicht. Enzensbergers Fundstücke, die er auf seinen Streifzügen durch zwei Jahrtausende Lyrik gesammelt hat, stehen bei Tabori nicht im Museum, sondern auf dem Spielplatz: keine Endmoräne der Literaturgeschichte, sondern eine Fete, eine Séance absonderlicher Geister. Daß der Abend auch eine Geisterbeschwörung ist, zeigt Tabori schon zu Beginn: Ein Herr im Frack (Christoph Bantzer) ist allein auf der Bühne und begrüßt die unsichtbaren Gespenster auf den leeren Stühlen. Als dann seine elf Mitspieler auf die Bühne strömen, wissen wir, daß es sich nur um Zauberwesen handeln kann.

Tabori spielt szenisch mit den Gedichten: leicht und ironisch, melancholisch und versponnen. Brechts neusachliche Arie „700 Intellektuelle beten einen Öltank an“ wird zur leidenschaftlichen Liebeserklärung, die, ziemlich weit entfernt von den Gepflogenheiten der neuen Sachlichkeit, ein Liebhaber seiner Angebeteten macht. Ovids lüsternes Liebesgedicht an Corinna begleitet die Begattung einer Beate-Uhse-Puppe, und Georg Philipp Harsdörffers Abrechnung mit dem Elend der Welt vertraut ein genervter Insasse der geschlossenen Poesie-Anstalt bei einem Telefoninterview einem aufdringlichen Journalisten an: „Scheiß Journaille.“

Taboris schräge Vögel sind keine grellen Exoten, sondern Verliebte und Verrückte wie du und ich. Zwar bemühte das Programmheft pflichtbewußt Foucaults Attacken auf die Psychiatrie, um die Grenze zwischen Bürgern und Irren zu durchlöchern, aber Enzensberger und Tabori brauchen für ihr Spiel keinen akademischen Begleitschutz: Es genügt ein barockes Memento mori, das ihnen Gryphius als Prolog liefert: „Ihr irrt, indem ihr lebt; die ganz verschränkte Bahn / Läßt keinen richtig gehn. Dies, was ihr wünscht zu finden, / Ist Irrtum... Was euer Herz ansteckt, ist nur ein falscher Wahn.“ Das Leben, ein Labyrinth – „bis der gefundne Tod euch frei vom Irren macht“. Der 80jährige Tabori, der wissen ließ, dies sei vielleicht seine letzte Inszenierung, feiert die Absonderlichkeiten des Lebens, eine Inszenierung, die geheimnisvoll ud zauberhaft, die letzten pointenseligen Arbeiten Taboris am Wiener Burgtheater weit überragt. Peter Laudenbach

Hans Magnus Enzensberger: „Delirium“. Regie: George Tabori; Bühne: Rolf Clittenberg; Mit: Christoph Bantzer, Hans Kremer, Elisabeth Schwarz u.a. Thalia Theater Hamburg, nächste Aufführungen: 2., 6. und 28. Juni.

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