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Straßenkampf im East End

In Großbritannien formiert sich Widerstand gegen die Straßenbaupläne der Regierung / Neue Koalition von Jung und Alt  ■ Aus London Marco Carini und Ulrike Winkelmann

Sie ist die wohl älteste Hausbesetzerin ganz Großbritanniens, die 93jährige Dolly Watson. Als das britische Verkehrsministerium sie zwangsenteignete, wurde aus der Besitzerin eine Besetzerin. Seit ihrer Geburt, so erzählt sie stolz, lebe sie in diesem Haus in der Claremont Road, im Londoner East End. „Und ich gehe hier nicht raus, bevor mir die Regierung eine gleichwertige Bleibe zur Verfügung gestellt hat“.

Das Haus, in dem Dolly ihr Leben verbracht hat, ist dem Abriß geweiht. Dort, wo heute Dollys Küchentisch steht, so hat die britische Regierung beschlossen, soll ab Herbst 1997 eine Stadtautobahn den Autoverkehr durchs East End leiten: die sogenannte M11-Verbindungsstraße, welche die Autobahn Cambridge–London (M11) an den Blackwell-Tunnel – eine der wichtigsten Themse- Unterführungen im Osten der Stadt – anschließt. Wie mit einem Tranchiermesser sollen die East- End-Viertel Wanstead, Leytonstone und Leyton durch die sechseinhalb Kilometer lange, teilweise sechsspurige, 600 Millionen Mark teure Straßentrasse zerschnitten werden. Sieben Minuten Fahrzeit, so haben die amtlichen Verkehrsplaner errechnet, wird jeder Autofahrer auf seinem Weg zwischen der „M11“ und dem Blackwell- Tunnel dann im Durchschnitt sparen. Um das zu ermöglichen, müssen ganze Straßenzüge abgerissen und entvölkert werden. Rund 300 Wohnhäuser sollen dem innerstädtischen Highway zum Opfer fallen; rund 100 von ihnen wurden bereits dem Erdboden gleichgemacht.

„Irgendwann werden sie auch hierher kommen, um mich rauszutragen“, befürchtet Mrs. Watson, die ihre Nachbarn nur „Jolly Dolly“ (Die fröhliche Dolly) nennen. Zusammen mit ihrem Nachbarn Mick Thopson hat die betagte Dame die Türen ihres Hauses verbarrikadiert. Mick selbst hat auf der Dachspitze seines Heimes einen Galgen aufgerichtet, an dem – unübersehbar – ein Strick baumelt. „Voll funktionsfähig“, betont er, um gleich darauf hinzuzufügen: „Wenn die Räumtrupps kommen, werden sie mich dort oben hängen sehen.“ Micks und Dollys frühere Nachbarn sind längst fortgezogen.

„Die meisten gingen in den achtziger Jahren“, weiß Robert Layton, ein 45jähriger Telecom- Angestellter, der ein paar hundert Meter weiter südlich lebt. Monatelang hatten sich die ehemaligen Bewohner des Viertels Anfang der achtziger Jahre auf eine Anhörung zu dem Straßenbauprojekt vorbereitet. „Wir gingen in dem festen Glauben dahin, die Entscheidungsträger mit Argumenten und Gutachten überzeugen zu können“, erinnert sich Layton, „doch die Anhörung war eine Farce. Danach haben viele meiner Nachbarn das Gefühl gehabt, es sei zwecklos, sich weiter zu wehren, und haben ihre Häuser an die Regierung verkauft“. Die Anwohner gingen, der Widerstand aber blieb. Er wird heute von denen getragen, die die englische Presse als „New- Age-Traveller“, der Sprecher des britischen Verkehrsministeriums, Terence Gibbons, hingegen als „ungewaschene Protestler, die aus allen Himmelsrichtungen herbeiströmen“, bezeichnet. Wie ein Heuschreckenschwarm, berichtet der Ministeriumssprecher, seien sie ins East End eingefallen und hätten ganze Straßenzüge verlassener Häuser besetzt. So hat auch die Claremont Road, in der Dolly und Mick leben, ihr Gesicht in den vergangenen Monaten gewaltig verändert. Nicht nur durch die Baulücken, die die Bulldozer bereits gerissen haben. Die verbliebenen Hausfassaden sind bunt bemalt, aus den Fenstern hängen riesige Transparente. Stühle und Tische stehen auf der Fahrbahn und lassen Verkehr hier nur im Schrittempo zu. Kein Zaun trennt mehr die Hintergärten, in denen plüschige Sperrmüllensembles zum Verweilen einladen. Da Hausbesetzungen in Großbritannien strafrechtlich nicht geahndet werden und jeder, der in einem Haus lebt, egal ob als Mieter, Besitzer oder Besetzer, den Schutz des Gesetzes genießt, muß das Verkehrsministerium oft monatelang prozessieren, bis es die heißbegehrte Räumungsverfügung gegen die ungebetenen Bewohner in den Händen hält. „Wir mußten den Beginn der Arbeiten für den zweiten Bauabschnitt der Straße deshalb von September 1994 auf Januar 1995 verlegen“, räumt Bob Brazier, Sprecher der für das Projekt verantwortlichen Baufirma, ein. Denn die Umweltaktivisten kämpfen um jedes Haus.

Die Fäden der Anti-Straßen- Initiative laufen in einem kleinen Büro in der Grove Green Road zusammen, das in eine U-Bahn- Brücke eingelassen ist. In dem „Direkt Action Office“ herrscht hektische Betriebsamkeit: Telefone klingeln, Flugblätter werden verfaßt, Aktionen vorbereitet und das Layout für den Straßenbrecher, die regelmäßig erscheinende Postille der Initiative, entworfen.

Alison Buttler engagiert sich seit Dezember für die Kampagne. Als „Vollzeit-Aktivistin“, wie sie es selbst nennt. Ihr Psychologie- Studium hat die 21jährige dafür unterbrochen: „Ich genieße es einfach, mit den Leuten hier zu leben und etwas Sinnvolles zu tun.“ Daß die Umweltschützer die Verbindungsstraße noch verhindern können, glaubt Alison nicht: „Die Regierung weiß, daß diese Straße keinen Sinn macht, aber sie würde ihr Gesicht verlieren, wenn sie die Bauarbeiten einstellt.“ Trotzdem sollten die Verantwortlichen spüren, „daß sie solche Projekte nicht mehr widerstandslos durchziehen können“. Gegen die Straßenbaupläne setzen die „Öko-Besetzer“ spektakuläre, gewaltfreie Aktionen, die das Bauprojekt behindern und die Öffentlichkeit wachrütteln sollen. Ende April erklommen sie, von den Sicherheitskräften unbemerkt, des Nachts das Dach des Wohnhauses von Verkehrsminister John Mac Gregor und entfalteten, unter dem Motto „returned to sender“, ein sieben Meter langes Banner mit einer Zeichnung der geplanten Schnellstraße. Mitte Februar kam es zwischen ihnen und der Polizei zu der bislang größten Auseinandersetzung, die als „Schlacht um Wanstonia“ in die Analen des East End eingegangen ist. Elf Stunden benötigte die Polizei, um die letzten drei besetzten Häuser an der Cambridge Park Road, dem ersten Bauabschnitt, zu räumen. Die knapp 300 Besetzer hatten Fenster und Türen verbarrikadiert, Gräben errichtet und die Innentreppen abgebaut. Die 28jährige Becky Lush und ihre Freundin Patricia Braga, die in einem der Häuser mehr als 16 Jahre gewohnt hatten, ketteten sich an eine mit Beton ausgegossene Waschmaschine an. Andere Besetzer zementierten Arme und Beine in das Mauerwerk ein. Zwei Dutzend Straßengegner, die auf den Dächern ihre letzte Zuflucht gefunden hatten, mußten per Kran einzeln auf den Boden zurückgebracht werden.

Doch die Meinung im Viertel ist geteilt: „Die sind schmutzig und verlottert; nachts krieg' ich hier kein Auge mehr zu“, schimpft Jackie Heath, die seit 15 Jahren in Wanstead lebt, über die Polit-Aktivisten, von denen sie meint, sie seien in ihrem Viertel „unpopulärer als die neue Straße“. Auch die Regierung versucht die Straßengegner in Gut und Böse zu spalten. „Den Protest einiger Anwohner, die um ihre Gärten fürchten“, urteilt Ministeriumssprecher Gibbons, „kann die Regierung akzeptieren.“ Die New-Age-Traveller hingegen würden versuchen, die der Stadtautobahn meist wohlgesonnenen East-End-Bewohner „von der Straße zu entfremden“.

Die Londoner „Anti-M11 linkroad campaign“ ist kein Einzelfall. Seit sich vor gut anderthalb Jahren im nahe Winchester gelegenen Twyford Down erstmals Anwohner vor die anrückenden Bulldozer warfen, um die geplante Verlängerung einer Autobahn zu verzögern, hat eine weitgefächerte Verkehrsbewegung wie ein Flächenbrand ganz Großbritannien überzogen. Ob im südwestenglischen Bath oder im walisischen Snowdon – wo immer neue Straßengroßprojekte, Autobahnen und Landstraßen geplant sind, blockieren alteingesessene und zugereiste Verkehrsgegner gemeinsam Baufahrzeuge, ketten sich an Bäume oder dringen in Baugelände ein. Direkte Aktionen, gewaltfrei und phantasievoll, bestimmen landesweit das Erscheinungsbild der Bewegung.

Auch wenn das britische Verkehrsministerium es lange nicht wahrhaben wollte: Innerhalb weniger Monate ist die ungezügelte Autoflut zum Umweltthema Nummer eins auf der Insel geworden. Jetzt reagiert die Regierung mit der Kriminalisierung der Aktivisten. Vor wenigen Wochen zog das Justizministerium mit der „Criminal Justice Bill“ eine den Straßengegnern auf den Leib geschnittene Gesetzesvorlage aus der Schublade. Besetzte Häuser sollen danach ohne Gerichtsverfahren geräumt, daß unbefugte Eindringen in Baustellen und leerstehende Häuser mit hohen Strafen belegt werden können. „Wenn das Gesetz durchkommt“, ahnt Michael Schwarz, Anwalt vieler Gegner der Londoner Verbindungsstraße, „ist das für die Bewegung ein Desaster.“

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