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Welt- versatzstücke

„Menschenwelt“ – Eine Ausstellung im Kunstverein Münster  ■ Von Ingo Arend

In der Mitte des Ausstellungsraumes sitzt ein kleiner scheuer Junge auf einem einfachen Holzstuhl. Den Kopf hat er leicht zur Seite gewandt, die Hände artig unter einer gelblich ausgeblichenen Wachstuchdecke mit grün-roten Karos gefaltet, die auf dem Frühstückstisch liegt. Der Düsseldorfer Künstler Martin Honert hat in seiner Arbeit aus dem Jahre 1993, die jetzt im Westfälischen Kunstverein in Münster zu sehen ist, Erinnerungen nachgebildet. Er hat ein Foto aus dem Familienalbum dreidimensional und farbig nachgebaut. Seine Arbeit ist vielleicht das beredteste Beispiel für den neuen Blick, mit dem die acht Künstler in Münster die Welt sehen.

Denn Honert rekonstruiert mit seiner individuellen zugleich eine allgemeine Erinnerung – die des engen Milieus der kleinbürgerlichen Küchenwelt der fünfziger Jahre. Das Mittel zur Erkenntnis – in diesem Fall Kunst – bringt ein Bewußtsein von Geschichte plastisch zur Anschauung. Das entsteht aber nicht aus dem verallgemeinernden Begriff, unter dem sich die privaten Erscheinungen quasi wegducken. Vergangenheit wird nicht von oben, sondern von unten, aus der Sicht des einzelnen anhand des alltäglichen Interieurs seiner Lebenswelt aufgerollt.

Fraglos hinge- nommene Lebenswelt

Kunst hat sich immer mit dieser alltäglichen Dingwelt auseinandergesetzt. Ging es aber bei der Pop-art etwa um die universalen Symbole der Epoche von billiger Modernität und Konsum, um die banalen Fetische der Warenwelt wie Warhol's Suppendosen, versteckt sich hinter dem Münsteraner Ausstellungstitel „Menschenwelt (Interieur)“ die Frage, wie der einzelne die eher unscheinbaren, meist fraglos hingenommenen Dinge der Lebenswelt persönlich erfährt.

Honerts Arbeit löst die Deutung von dieser Kunst als „Schnittstelle zwischen persönlicher und kollektiver geschichtlicher Erfahrung“ am deutlichsten ein. Das Diktum stammt von Martin Hentschel, der die Ausstellung initiiert hat. Wobei Hermann Pitz gleich im Gegenzug auf das Problem hinweist, was eigentlich individuell ist, wenn er im Katalogtext schreibt: „Die eigene Biographie ist nicht der Mitteilung wert; sie ist nur interessant in bezug auf das Allgemeine in ihr.“

Aber es spricht auch für das Bewußtsein von der individuellen Sicht als letztem Halt in einer Epoche, wo kein Ding mehr auf dem anderen bleibt, wenn Pitz weiterschreibt: „Meine eigene Biographie ist vielleicht der einzige Bereich meiner Erinnerung, über den ich ganz verfüge, für den ich die Urheberrechte habe durch mein Leben – so austauschbar auch dessen Parameter mit denen der Biographien meiner Zeitgenossen sein mögen.“

Sogenannte Autorenausstellungen wie die in Münster nehmen zu. Der Ausstellungsmacher tritt dort mit seiner Auswahl von Künstlern unter einem Leitwort eher gleichberechtigt neben sie. Ob sich die Kunst unter einem klugen Begriff seiner meist mit schwerer Philosophie beschlagenen Projektionsbrille trendverdächtig zusammenfassen läßt, kann man oft bezweifeln. Doch Edmund Husserls Wort von der „Vorgegebenheit der Welt“, das Martin Hentschel vom Württembergischen Kunstverein seiner Ausstellung zugrunde legt, leuchtet dieses künstlerische Interesse an der Dingwelt tatsächlich recht gut aus. Frappierend auch, wie Husserls Phänomenologie überhaupt in dieser Kunst steckt: vom direkten Blick auf die Dinge zu ihrer geistigen Sicht, so wie man von zwei einzelnen Gegenständen zur mathematischen Kategorie zwei gelangt.

Die Dingwelt, subjektiv erschlossen

Nicht nur bei Michael Honert, wo sich Geschichte vom Küchentisch ableitet, hat sich der Blickwinkel umgekehrt. Michael Bachs fast fotorealistische Städtebilder, die Aufsicht auf ein Parkhaus, auf eine Stadtlandschaft am Flußufer erinnern nicht nur daran, wie stark die von der Architektur geschaffenen Dinge unser Leben prägen. Wolfgang Schlegel zeigt mit seinen perspektivisch in den Raum ragenden Containerskulpturen unsere standardisierte, öffentliche Lebenswelt. Von diesem Punkt aus drängt sich dem Betrachter die Frage nach einer Ordnung der menschenentleerten Stadtwildnis auf – oder wie man den metaphorischen Leerraum Container sonst noch füllen könnte.

Obwohl sich die Künstler diese Dingwelt ausgeprägt subjektiv erschließen, ist ihre Kunst eher lakonisch, präzise. Das unterscheidet sie von der geilen Pose, in der sich einst narzißtisch „Junge Wilde“ gegen die abgekehrte Seite der Sinnlichkeit in der Concept-art aufbäumten.

Zwar richtet sich der Blick eher nach innen, wie sich in Herrmann Pitz' Installationen „Durch Jürgens Augen“ zeigt, wo man durch eine Linse in das Atelier des Künstlers blicken kann. Aber sie ziehen sich

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trotzdem nicht in eine gesellschaftsferne Nische zurück. Die schwarzen Häute, die Maureen Connor aus New York über ein krakenfüßiges Drahtgestell gezogen hat, schreien nicht heraus, wie Sexualität und Gewalt zusammenhängen. Der überdehnte Netzstrumpf ruft den leisen Schrecken hervor, reflexiv.

Kunst ist nicht nur ein Kontrastmittel für verschüttete Alltagswahrnehmung. Luc Tuymans Ölbilder mit ihren ausschnitthaft isolierten schwarz-weißen Alltagsgegenständen (wie Türklinken) rufen eine fast wachträumerische Intensität hervor. Bei diesem Sturz ins Bodenlose lösen sich nicht nur die Begriffe von ihrer Umgebung, sondern auch die Begriffe schier von den Dingen ab.

Sehen – „wie beim ersten Mal“?

Die Auswahl und Aussage solcher Ausstellungen mag relativ sein. Die Kunst mag sich in ihnen problematisch interpretationsbedürftig erweisen. Und doch offenbart die Münsteraner Präsentation Kunst nicht als die in den letzten Jahren üblich gewordene Kunst über Kunst oder als Kapitulation vor Baudrillards Agonie des Realen. Die jüngere Kunst spiegelt mit ihren Formen der Gegenwart die „zweite Moderne“ (Heinrich Klotz). Sie zeigt, daß die Welt mit ihren Dingen intensiver Befragung würdig, ein Diskurs über die Welt möglich scheint. Aber dieser Dialog mit ihr beginnt neu, es ist ein persönlicher, subjektiver Dialog, und er beginnt wieder ganz unten, eben bei den Dingen.

Der Gedanke, der sich bei der Münsteraner Ausstellung unwillkürlich aufdrängt, ob es einen Weg zurück zu einer ursprünglichen, unmittelbaren vorwissenschaft- und vorbegrifflichen Anschauung gebe, ob man, wie es Dietmar Kamper kürzlich auf dem Kongreß der Bonner Bundeskunsthalle zur „Zukunft des Sehens“ sagte, die Dinge anschauen könne „wie beim ersten Mal“, kann man bezweifeln.

Aber immerhin: Die Menschenwelt, Hentschels poetische Variation zu den unbelebten Dingen der Husserlschen Lebenswelt, entsteht erst durch den menschlichen Blick darauf. So gesehen, fragt der zweite Ausstellungstitel „Interieur“ nicht nur danach, wie wir uns in der Welt gegenwärtig einrichten, nach dem, was vorgegeben ist.

In Münster werden die von Künstlern gesehenen Versatzstücke der Welt, jene Dinge, aus denen sie eingerichtet ist, selbst zum vielfältig verknüpfbaren Interieur eines Ausstellungs-Innenraumes. Die Dinge, die gerade noch aussehen wie die alte Welt, legen auch die Frage nach dem Wie einer Menschenwelt draußen nahe, in der wir uns neu werden einrichten müssen.

Die Ausstellung „Menschenwelt (Interieur)“ ist noch bis einschließlich 17. Juli im Westfälischen Kunstverein Münster, Domplatz 10, zu sehen. Der Katalog zur Ausstellung hat 99 Seiten und kostet 38DM.

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