: „Alles Menschliche auf Null reduziert“
Gegen die Tradition von Nummern und Namenslisten / Die Ausstellung „Frauen in Konzentrationslagern“ zeigt, daß auch Opfer ein Geschlecht haben ■ Von Sonja Schock und Udo Buschendorf
Bergen-Belsen: Kiefern, Birken, Heidekraut. Direkt vor dem Lagergelände säumen Kasernen die Straße, abgesichert mit Stacheldraht und großformatigen Warntafeln: „Achtung, Wachhunde im Einsatz!“ Ausgesprochen klein und diskret dagegen sind die Hinweisschilder, die den Weg zum Konzentrationslager weisen. Freundlich neutral bezeichnen sie es als „Gedenkstätte“.
„Wir nannten Auschwitz das Vernichtungslager und Bergen- Belsen das Verreckungslager“ – Erinnerungen von Margot Vetrocova, die beide Höllen überlebte. Sie und andere ehemalige Insassinnen aus Bergen-Belsen und Ravensbrück kommen in der Ausstellung „Frauen in Konzentrationslagern“ zu Wort. Sie durchbrechen die Überlieferung der Opfer als gesichts- und geschlechtslose Masse. Und sie verweisen auf ein Versäumnis der deutschen Nationalsozialismusforschung, die lange Zeit inhaftierte Frauen als zu vernachlässigende Größe betrachtet hat. Sie wurden quasi als Anhängsel behandelt; Erkenntnisse über die Situation männlicher Häftlinge wurden unhinterfragt auf die Frauen übertragen. Daß aber die verfolgten Frauen allein numerisch betrachtet keine zu vernachlässigende Größe sind, hat die Soziologin Gudrun Schwarz in ihrer Arbeit über „Die nationalsozialistischen Lager“ eindrucksvoll herausgearbeitet. Sie fand heraus, daß mehr als ein Viertel der ungefähr 1.200 nationalsozialistischen Lager reine Frauenlager waren.
In Bergen-Belsen wurde erst im August 1944 ein Frauenlager eingerichtet. Die ersten Frauen waren polnische Zivilistinnen, die nach dem Warschauer Aufstand nach Deutschland deportiert wurden. Es folgten Jüdinnen, Sinti und Roma und Widerstandskämpferinnen aus fast allen europäischen Ländern. Viele waren von Auschwitz aus als Arbeitskräfte nach Bergen-Belsen gebracht worden und erlebten dort eine ganz andere Variante des Massenmordes. Obwohl in dem Heidelager nicht systematisch durch Gas oder Erschießungen getötet wurde, gilt das KZ als Vernichtungslager. Hier wurde durch unterlassene Hilfeleistung gemordet, starben die Menschen zu Zehntausenden an Unterernährung, Krankheiten, Erschöpfung, an den Schikanen des Wachpersonals und den katastrophalen hygienischen Bedingungen. Als die Briten das Lager im Frühjahr 1945 befreiten, hatten sich Typhus, Fleckfieber und Ungeziefer derart verbreitet, daß sämtliche Baracken niedergebrannt werden mußten. Allein zwischen Februar und April 1945 waren 34.000 Menschen den unmenschlichen Verhältnissen zum Opfer gefallen.
Auf deren Sterben verweisen heute nur noch einige Hügel: Massengräber, an denen Steintafeln die Zahl der Toten angeben. Ein paar symbolische Grabsteine wirken verloren auf der freien Fläche. Die Landschaft verbirgt die Geschichte, einer Grabinschrift zum Trotz, die fordert, daß die Erde das Blut, das auf ihr vergossen wurde, nicht verdecken möge. Auch das Modell des Konzentrationslagers im angrenzenden Dokumentationszentrum, das in die Ausstellung integriert und durch geschlechtsspezifische Angaben erweitert wurde, führt in die Irre. Es vermittelt einen sauberen und aufgeräumten Eindruck, der im direkten Gegensatz zu den Aussagen der Überlebenden steht.
Der zweite Teil der Ausstellung konfrontiert die BesucherInnen mit den Biographien und Fotos dieser Frauen. Sie verbergen sich in grauen, lebensgroßen und nur halb aufgeklappten Leinwandetuis. Von außen sehen die Behältnisse alle gleich aus. Innen offenbart sich ein jeweils individuelles Schicksal. Die Form der Präsentation ist Verweis auf die doppelte Verneinung von Identität: erst durch die Nationalsozialisten und später durch die nachkriegsdeutsche Praxis, die Opfer als Leichenberge und Zahlenkolonnen wahrzunehmen. Die Zerstörung des Individuums war integrativer Bestandteil des Terrorregimes, vom willkürlichen Entzug der Bürgerrechte bis zur völligen Isolation und ständigen Erniedrigung in den Lagern. Dazu gehörte auch die Nivellierung äußerer Unterscheidungsmerkmale, die gerade von den Frauen als besonders schmerzhaft empfunden wurde: „Wahrscheinlich war das Abrasieren der Haare doch letzten Endes das Traumatischste. Man fühlt sich vollkommen nackt, verwundbar und zu einem absoluten NIEMAND reduziert“, erinnert sich eine ehemalige Insassin. Wieder andere berichten, was es bedeutet, sich nicht waschen und pflegen zu können, statt dessen verlaust und mit vollgeschissenen Hosen im eigenen Dreck vegetieren zu müssen.
Fotos, kurz nach der Befreiung aufgenommen, illustrieren diese Aussagen im dritten Teil der Ausstellung. Auch auf ihnen haben die Opfer Gesichter: zerschlagene, kranke, abgemagerte, verdreckte Frauen, denen in einigen Fällen – und das ist vielleicht das Erstaunlichste – sogar ein Lächeln gelingt. Frauen, die sich zum Kartoffelschälen zusammengesetzt haben, wenige Meter hinter ihnen ein Leichenberg: Einblicke in den Zustand der völligen Verwahrlosung, in dem sich das Lager Bergen-Belsen in den letzten Monaten vor der Befreiung befunden hatte. Die Lebensbedingungen führten letztlich zu Ich-Verlust und Apathie: „Ich möchte gern irgend etwas Angenehmes und Ästhetisches fühlen, hohe zarte Gefühle erwecken, würdiges Empfinden. Es ist schwer. Ich strenge meine Vorstellungskraft an, aber es geht nicht. Unsere Existenz hat etwas Tierisches, Grausames an sich. Alles Menschliche ist auf Null reduziert“, beschreibt Hanna Levy- Hass in ihrem Lagertagebuch diesen fortschreitenden Desintegrationsprozeß. Für die AufseherInnen waren die Frauen Nummern, systematisch wurden sie – so Hannah Arendt – „auf den kleinsten gemeinsamen Nenner organischen Lebens zurückgeführt“. In der Ausstellung wird dies durch ein Zahlenquadrat versinnbildlicht, das das räumliche Zentrum des angedeuteten Lagers bildet. Zwischen den einzelnen Ausstellungselementen muß es überschritten werden, knarrend erinnern die hölzernen Zahlenplatten immer wieder an den Prozeß der Entmenschlichung. Als Kontrast fungieren die Leinwandkästen, die individuelle Biographien aus der Anonymität von Nummern und Namenslisten herausholen. Fotos aus der Zeit vor und nach der Inhaftierung machen deutlich, daß die Lagerhaft lediglich ein Element der Lebensläufe ist, daß es – zumindest für diese Frauen – nicht nur ein Vorher, sondern vor allem auch ein Nachher gibt. Sie sind keine Toten, derer man aus der Ferne gedenken kann, sondern Überlebende, die die Realität des Lagers in die Realität der Gegenwart tragen. Und sie thematisieren die ständige Präsenz der Vergangenheit. Für sie gesellt sich zu den Versehrungen, die sie davongetragen haben, die nachkriegsdeutsche Ignoranz, die ihnen eine Auseinandersetzung mit diesem Teil der Vergangenheit erschwert. Wie wichtig sie für die Opfer ist, dokumentiert ein Brief von Margot Vetrocova, den sie 1988 nach einem Aufenthalt in Bergen-Belsen an ihre deutsche Gastgeberin geschrieben hat: „Unerklärlich ist, daß die Eindrücke des 17. April 1988 aus meinem ,Unterbewußtsein‘ das Quälendste verwischt haben. Nur die verstandesmäßig lenkbaren Erinnerungen sind geblieben. Aber das scheint niemand zu verstehen. Überhaupt habe ich das Bedürfnis, meine Eindrücke und Gedanken mit anderen zu diskutieren und bin da ziemlich allein gelassen.“
Für die Opfer bieten Gedenkstätten wie die in Ravensbrück die Möglichkeit, das erlittene Leid nachträglich an einem konkreten Ort festzumachen und es darüber als Teil der eigenen Lebensgeschichte, über die sie sich mitteilen können, zu akzeptieren. Die negative Macht der Erinnerung läßt sich so zumindest entschärfen. Auch für die TäterInnen und ihre Nachkommen könnten die Stätten Anstoß sein, diesen Bestandteil der deutschen Geschichte als „negatives Eigentum“ anzunehmen. Ein Blick in das BesucherInnenbuch der Ausstellung zeigt, wie weit die Deutschen offenbar davon noch entfernt sind. Das hilflos gebetsmühlenhaft wiederholte „nie wieder“ verweist auf die Flachheit deutschen Gedenkens.
Statt sich den Opfern anzunähern und genau hinzuschauen, hat man sich hierzulande jahrzehntelang darauf beschränkt, abstrakte Fakten zu sammeln und die Schulklassen mit Leichenbergen zu traktieren. Dadurch wurde die Tradition der Nihilierung fortgesetzt, wurden die Opfer in die endgültige Anonymität verbannt. Einen differenzierenden Blick hat man höchstens dort gewagt, wo es galt, die Psychologie der TäterInnen zu durchleuchten. Das gilt auch für die feministische Nationalsozialismusforschung. Abgesehen von einigen Arbeiten über Widerstandskämpferinnen – Frauen, die sich nicht zuletzt zur Identifikation anboten –, wurde den Verfolgten kaum Beachtung geschenkt. Statt dessen konzentrierten sich die Untersuchungen der 70er und frühen 80er Jahre auf die Schicksale der Mitläuferinnen und Mittäterinnen, die dann schließlich auch als Täterinnen benannt wurden. Erst in den letzten Jahren ist auch der Opferforschung bewußt geworden, daß es wichtig ist, die Opfer unter anderem nach ihrem Geschlecht zu unterscheiden. Offenbar hat die deutsche Forschung erst jetzt, knapp 50 Jahre später, die Notwendigkeit erkannt, den Opfern ins Gesicht zu sehen. Die Ausstellung „Frauen und Konzentrationslager“, die aus einem historischen Seminar der Universität Hannover hervorgegangen ist, ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen