: In erster Linie Mittelklasse
■ Zu Recht: In Halle wurde zum Kongreß zur "Verteidigung der Kultur" geladen
Die Kultur ist bedroht. Im Hallenser „Volkspark“ zumindest traf man sich zu einem „Kongreß zur Verteidigung der Kultur“, zu dem der DGB, die Bildungsvereinigung „Arbeit und Leben“ und viele andere mehr nach Halle eingeladen hatten. Ungefähr 200, meist freie kulturschaffende, waren gekommen, um den Referaten von etwa fünfzig Kulturpolitikern und -arbeitern, Wissenschaftlern, Künstlern und Journalisten zu lauschen und ab und an auch einmal selbst dazwischen zu sprechen.
Ganz bewußt war der Titel den zwei internationalen Schriftstellerkongressen „zur Verteidigung der Kultur“ entlehnt, die 1935 und 1937 in Paris und Spanien stattfanden. Damals versuchten die antifaschistischen Schriftsteller, in aktuelle Kämpfe einzugreifen. Heute ging es um vergleichsweise Geringeres: Aufmerksam machen wollte man auf die „dramatischen Auswirkungen“ des „Kulturabbaus“. Aufklärerisch sollte einer „bedrohlichen Umwertung der Werte“ und „Gleichschaltung der Meinungen“ (Pressemappe) sowie dem Trend, die Kultur marktwirtschaftlichen Kriterien zu unterwerfen, entgegengetreten werden. An eine Zeit wollte man anknüpfen, in der Kultur noch selbstbewußt gegen einen unmißverständlichen Feind antrat. Zwar wurde in vielen Veranstaltungen Neonazismus thematisiert und zu Recht auf einen Rassismus der Mitte verwiesen, der sich unter anderem in der FAZ (18. 6., Seite 10) zeigt, doch der eigentliche Adressat des Kongresses war der geizige Staat.
Anarchisten mögen einwenden, daß es den durchschnittlich etwa 45jährigen Teilnehmern und Organisatoren des Kongresses in erster Linie um die Verteidigung ihrer Einkünfte gegangen sei. Das „Babbeln um Pfründe“, das die „Expander des Fortschritts“-Exfrontfrau monierte, nervte nicht nur Reste vom DDR-Underground. Allzusehr sollte man sich jedoch nicht über die traurigen Gesichter armer Poeten mokieren und zumindest bedenken, daß Arbeitsplätze in anderen Branchen ganz selbstverständlich mit ungleich höheren Finanzmitteln subventioniert werden und daß das durchschnittliche Jahreseinkommen des Künstlers in Deutschland bei 19.000 Mark liegt.
Zu Recht wehrte man sich vehement dagegen, Soziales und Kultur gegeneinander auszuspielen, und verwies darauf, daß es nicht nur um tolle Arbeitsplätze im kulturellen Bereich gehe, sondern auch um den Erhalt oder die Förderung einer kulturellen Infrastruktur. Wenn Goethe-Institute aufgelöst werden, Theater, Kinos, Bibliotheken (dreiviertel aller Büchereien in der Ex-DDR wurden dichtgemacht) und Jugendclubs nicht nur in der ehemaligen DDR geschlossen werden, wenn „wortlastige“ Kultursender den immer gleichen blöden Popmusikwellen Platz machen müssen, sind vor allem die Benutzer betroffen. Mehr oder weniger geschickt vermochten auch die geladenen Kulturpolitiker dem Protest zuzustimmen.
In der nachfolgenden Podiumsdiskussion in Sachen Kulturabbau/ Sozialabbau war dann häufig von zu schaffenden „Ermöglichungsstrukturen“ für Kultur die Rede. Die liegen unter anderem in freien Trägervereinen, die vor allem durch ABM-Gelder finanziert werden, meinte die Berliner Popvertreterin Susanne Binas auf dem Podium. Diese Vereine, die nach der Wende vor allem im „Osten“ aus dem Boden schossen und zur Zeit recht arg an Kürzungen leiden, schränkten die in ihnen beschäftigten Künstler jedoch auch ein. Inzwischen werden jedenfalls vor allem Künstler eingestellt, die mit Kindern und Alten sozial arbeiten. Ein Vertreter aus Neubrandenburg betonte, daß es in Mecklenburg-Vorpommern so übel nicht aussehe; ein anderer erklärte, „lediglich“ 14 Prozent der Bevölkerung nähmen Kulturangebote wahr – eigentlich unglaublich viele.
Der Berliner Urbanist Albrecht Göschel sprach kenntnisreich über unterschiedliche Kulturbegriffe, die es nach 45 in Westdeutschland gegeben habe. Kultur sei in erster Linie Mittelklassekultur. Bei denen, die sie in den siebziger Jahren verfertigt und genutzt hätten, handle es sich um eine durch die Bildungsreform aufgestiegene Schicht, die vor allem in sozialen und pädagogischen Berufen tätig war und unter Kultur vor allem Soziokultur verstand. In den achtziger Jahren habe es einen Wechsel der diskursbestimmenden Gruppen gegeben. Während Kulturschaffende sich in den siebziger Jahren als „Humandienstleister“ verstanden hätten, sähen sie sich heute als freie Dienstleistungsunternehmer, die mit ihren Waren frei auf dem Markt konkurrierten.
Im Saal verstand man offensichtlich sehr unterschiedliche Dinge unter „Kultur“. Göschels nüchterne Ausführungen stießen zumindest auf den gekränkten Protest der Anwesenden, für die „Kultur“ wie die Rede darüber unhinterfragbar gut und schön zu sein habe. Mehr Anklang als Göschel jedenfalls, der sympathischerweise ab 21 Uhr, dem Beginn der Fußball-WM, nervös und fahrig auf die Uhr zu schauen begann, fand Gerhard Zwerenz, der seine vollmundige Rede („Geht die Kultur, kommt die Gewalt“) im Predigerton mit pathetischen Worten einleitete: Dies „ist nicht meine Sprache“, sagte er und: „Ich kann mit Kulturwissenschaft weniger als nix anfangen.“ Heroisch wetterte der rote Großvater gegen die, die auf Staatsgelder schielten, betonte ein bißchen zu selbstzufrieden, daß er nie Geld vom Staat genommen habe, erzählte von ersten Leseerfahrungen (Magnus Hirschfeld) und davon, wie er im Krieg zum Pazifisten wurde, und geißelte die derzeitige „Bagatellisierung“ von Krieg und Nazismus.
In zahlreichen Foren und AGs – die ihren Namen nicht so recht verdienten, denn in erster Linie folgte im Stakkato ein Vortrag dem nächsten – ging es tags darauf um die verschiedenen Kulturgenres, um die „Rettung der Kultur vor dem Geld“ respektive „Kein Geld für Kultur“, um Jugend- und Erwachsenenarbeit und um Zensur. Von erschreckenden Beispielen der Repression war die Rede – ein Hamburger Fotograf konnte zum Beispiel deswegen nicht kommen, weil er immer noch unter den Folgen polizeilicher Übergriffe leide, ein freier Journalist von „Explosiv“ berichtete über eine Stunde von Schikanen, denen er nach einem Beitrag ausgesetzt war. Der Medientheoretiker Georg Seeßlen hielt einen brillanten Vortrag über moderne und postmoderne Formen von Zensur und Propaganda und „allfällige Faschisierungstendenzen“ der „postdemokratischen“ Gesellschaft. Die postmoderne Form kennzeichne, daß nicht allein Medien und Staatsanwälte damit operieren, sondern bereits die alltäglichen Inszenierungen des einzelnen zur Propaganda geronnen seien. Aus dem Nebenraum hörte man es währenddessen lachen; da hielt das „Agentenkollektiv Rheinhausen“ einen unglaublich lustigen lichtbildgestützten Vortrag zum Lobe des heiteren Schnorrens und Scheiterns. Detlef Kuhlbrodt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen