: Mit stoischer Ruhe zur Arbeit
■ Seit der Vereinigung überwinden immer mehr BerufspendlerInnen große Entfernungen zwischen Wohnung und Arbeitsplatz / Zwischen 200.000 und einer Million Pendler
Lange Bahnfahrten können helfen, das Leben im Griff zu behalten. „Es ist ja fatal, diese Programmvielfalt im Fernsehen“, stöhnt Peter Grabowski*. Seine individuelle Methode, die Spreu vom Weizen zu trennen, sieht so aus: Während der 50minütigen S-Bahnfahrt von Grünau zur Arbeit am Olympiastadion arbeitet er das TV-Programm durch. „Mit dem Textmarker streiche ich die vier oder fünf Sendungen pro Woche an, die ich interessant finde.“ Abends zu Hause dann kann er die ausgewählten Programme „mit dem Videorekorder wie reife Äpfel vom Baum pflücken“.
Grabowski teilt das Schicksal Hunderttausender, die täglich lange Entfernungen im Großraum Berlin durchmessen, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. Wie viele PendlerInnen die Straßen und Bahnlinien bevölkern, weiß niemand so genau. Die Schätzungen reichen von 200.000 bis zu einer Million Menschen, die Tag für Tag aus Brandenburg nach Berlin zur Arbeit kommen. Doch das Pendler-Phänomen läßt sich nicht auf die Fahrten zwischen der Stadt und ihrem Umland beschränken. Schon die mittlere Reiseentfernung der täglich 880.000 S-BahnFahrgäste beträgt knapp zehn Kilometer – viele von ihnen sind 20 oder 30 Kilometer innerhalb der Stadtgrenzen unterwegs.
Seit der Vereinigung von West- und Ostberlin im Jahre 1989 hat die Pendelei erheblich zugenommen. Peter Grabowski hat seinen Zeitaufwand für die Mobilität freiwillig erhöht: Aus dem stickigen Kreuzberg ist er mit seiner Lebensgefährtin ins ruhige Grünau gezogen, damit die Kinder im Garten spielen können. Inklusive Radfahrten zum S-Bahnhof und Umsteigen von einer Linie in die andere summiert sich seine tägliche Reisezeit auf zweieinhalb Stunden. „Aber das nervt mich nicht, weil ich davon im Prinzip nichts mitbekomme“, erklärt er seine Gewöhnung an die langen Wege.
Sitzt Grabowski erst in der Bahn, sperrt er die Außenwelt aus seiner Wahrnehmung aus, schaltet ab und läßt den inneren Vorhang herunter. Er konzentriert sich auf die abonnierte Tageszeitung und liest Artikel für Artikel sorgfältig durch – bis zur Seite „Aus aller Welt“, wo die kleinen Anekdoten auf den Genießer warten. Für die Rückfahrt bleibt noch der Lokalteil übrig und, wenn auch das nicht reicht, nimmt der weltmeisterschaftsbegeisterte Fußballfan noch den Kicker vor, dessen Sonderheft er schon seit Wochen in seiner Aktentasche mit sich trägt.
Die Stadt, die vor den Fenstern der S-Bahn vorbeizieht mit ihrem Trubel, den Baustellen und sichtbaren Veränderungen, ist für Grabowski von ebenso geringer Bedeutung wie für die anderen Reisenden, die den Waggon mit ihm teilen. „Wer hat schon jemals in der S-Bahn jemanden kennengelernt? Das ist so gut wie ausgeschlossen“, meint er, fügt jedoch hinzu: „Irgendwie schade ist es ja, die vielen Stunden, die man alleine verbringt. Mit einem Freund oder Kollegen wär's besser.“
Im Gegensatz zu Grabowski hat Erich Schmitter* das Pendlerschicksal nicht aus freien Stücken auf sich genommen. Während er in Stahnsdorf südlich von Berlin wohnt, hat er vor einigen Monaten eine neue Arbeit in Adlershof angetreten – 25 Kilometer entfernt. Jetzt sitzt er mindestens zwei Stunden pro Tag im Auto, bei Stau kann sich die Fahrzeit um weitere 60 Minuten verlängern. Zum Vergleich: 1989 noch mußte er für die Wege zwischen dem Wohnort und der damaligen Dienststelle in Potsdam nur eine halbe Stunde einkalkulieren. Die heutige Pendelei ist für Schmitter mit großen Kosten verbunden: Er lebt mit seiner Frau in Scheidung. „Es sind halt zwei Stunden weniger Zeit am Tag, das hat sicher zur Trennung beigetragen.“
Trotzdem kann der notorisch überarbeitete Geschäftsführer einer Elektronikfirma den langen Wegen ihre guten Seiten abgewinnen: „Ich höre fast immer Radio. Das ist die einzige Zeit am Tag, in der ich mitbekomme, was in der Welt passiert.“ Hannes Koch
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