Stadtmitte: Notengewitter ist keine Lösung
■ Zur Absicht des Schulsenators, künftig mehr Diktate schreiben zu lassen
Vordergründig erscheint der Streit um ein Diktat mehr oder weniger nicht der Rede wert. Wenn allerdings als Begründung auch für die Wiedereinführung der Benotung der Rechtschreibfehler in allen Fächern die Klagen der Industrie- und Handelskammer über mangelnde Lese- und Rechtschreibfertigkeiten von Auszubildenden angeführt werden, stellt sich die Frage, ob Zweck und Mittel in einem kausalen Zusammenhang stehen. Die Zahl der Diktate wurde vor vier Jahren um eins verringert, die Klagen von Betrieben sind schon erheblich älteren Datums. Wer meint, die Reduzierung habe sich nicht bewährt, unterstellt, daß sich die Rechtschreibfähigkeit gerade in den letzten vier Jahren verschlechtert hätte. Dafür müßte dann aber auch der Beweis angetreten werden.
Die Fähigkeit, sich sprachlich und schriftlich korrekt auszudrücken, sich anderen mitteilen, Gedanken differenziert formulieren zu können, ist eine notwendige und erstrebenswerte Fähigkeit und muß in der Schule vermittelt werden. Deshalb ist nicht strittig, ob dies in der Schule gelernt werden soll; strittig ist nur, wie diese Fertigkeit von Kindern und Jugendlichen erworben wird. Der Streit über diese Methoden reicht mindestens zurück bis zu Pestalozzis Zeiten.
Wer glaubt, durch mehr Diktate bessere Rechtschreibung zu erreichen, unterliegt dem Irrtum, die Förderung von Fähigkeiten mit ihrer Benotung gleichzusetzen. Dies ist ein Irrtum. Die Aufgabe der Schule wird nicht dadurch erfüllt, daß vorhandene Fähigkeiten und Fertigkeiten von Kindern möglichst frühzeitig und häufig geprüft und benotet werden. Fieber bekämpft man nicht damit, daß man es häufiger mißt. Die Schule soll SchülerInnen darin fördern, diese Fähigkeiten zu erwerben. Dies geschieht in der Regel erfolgreicher dadurch, daß für Kinder positive Schreibanlässe gesucht werden. SchülerInnen bemühen sich dann am meisten um eine korrekte Schreibweise, wenn sie Wert darauf legen, daß ihr Text gelesen wird. Deshalb ist es erheblich wichtiger, häufiger Schreibanlässe zu schaffen, zum Beispiel Projekt- oder Erlebnisberichte zu verfassen, die den SchülerInnen als lesenswerte Mitteilungen wichtig sind. Kinder und Jugendliche wachsen heute schon allein durch den veränderten Medienkonsum mit sehr viel mehr Bildern als mit Büchern auf. Dafür einen Ausgleich zu schaffen, daß zum Lesen und Schreiben motiviert wird, daß auf zwischenmenschliche Kommunikation mehr Wert gelegt wird, die wesentlich auch von sprachlichen Kompetenzen abhängt, ist wichtiger, als Diktate zu schreiben.
Die schlechte Note (auch noch dazu dann in allen Fächern) demotiviert eher, als daß sie anspornt. Daß Kinder, die mit der Rechtschreibung Schwierigkeiten haben – und nach wie vor gibt es dafür schichtspezifische Gründe – dadurch auch noch zusätzlich in allen anderen Fächern benachteiligt werden sollen, mindert in ungerechtfertigter Weise ihre Erfolgschancen. Kinder kommen in der Regel mit einer hohen Motivation in die Schule und sind begierig, lesen und schreiben zu lernen. Diese Motivation zu erhalten und zu fördern ist Aufgabe der Schule. Ständige Notengewitter richten hier eher Schaden an. Sybille Volkholz
Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen und Ex-Schulsenatorin
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