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„Eine Abfolge greller Episoden“

Zum 100. Geburtstag Isaak Babels werfen eine neue Übersetzung seiner „Reiterarmee“ und die ausgewerteten Verhörprotokolle aus den KGB-Archiven neues Licht auf Leben und Tod des Schriftstellers  ■ Von Anja Seeliger

Die beiden NKWD-Beamten, die Isaak Babel am 16. Mai 1939 in seiner Datscha verhafteten, um ihn in die Lubjanka zu bringen, nahmen eine Truhe voller Manuskripte mit. Die Akten sagen: verschiedene Manuskripte – 15 Mappen, Notizbücher – 11 Stück, Notizblöcke mit Aufzeichnungen – 7 Stück. Im September 39 wandte sich Babel aus der Lubjanka an den Geheimdienstchef Berija, mit der Bitte, Ordnung in die beschlagnahmten Papiere bringen zu dürfen: „Sie enthalten Entwürfe zu Essays über die Kollektivierung und Kolchosen in der Ukraine, Material zu einem Buch über Gorki, Entwürfe einiger Dutzend Erzählungen, eines halbfertigen Stücks, einer fertigen Szenariumvariante. Diese Manuskripte sind das Ergebnis achtjähriger Arbeit ...“ Er erhielt keine Antwort.

Ende 1988 gründete der russische Schriftstellerverband eine Kommission, die den Nachlaß ermordeter Kollegen in den Archiven des Geheimdienstes aufspüren soll. Die Kommission fand hunderte von Akten über verhaftete Schriftsteller, jedoch kaum Manuskripte. Babels Papiere und Skizzen blieben verschwunden. Vielleicht hat Berija sein Arbeitszimmer damit beheizt. Inzwischen hat der Vizepräsident der Kommission, Witali Schentalinski, einen ersten Bericht über die bisherigen Funde vorgelegt (1). Das Kapitel über Babel überschrieb er „Ich bitte Sie, mich anzuhören“.

13 Tage nach seiner Verhaftung, am 29. Mai 1939 wird Babel den Untersuchungsbeamten Schwartzmann und Kuletschow vorgeführt. Das Verhör dauert drei Tage und Nächte. Es beginnt mit der Frage, ob Babel sich schuldig bekenne, an antisowjetischen Aktivitäten teilgenommen zu haben. Babel bekennt sich nicht schuldig. Frage: „Wie ist Ihre Unschuldserklärung mit Ihrer Verhaftung zu vereinbaren?“ Antwort: „Ich betrachte meine Verhaftung als das Resultat fataler Umstände und des Versagens meiner Kreativität, welches dazu führte, daß ich in den letzten Jahren nichts Wichtiges veröffentlicht habe. Unter sowjetischen Bedingungen muß das wie eine Sabotage und eine Weigerung zu schreiben aussehen.“ Der Angeklagte wird gebeten, seine Verhaftung zu begründen, und was gibt er zur Antwort? Mangel an Inspiration, Sabotage durch ein Kreativitätstief. „Sidorow, der schwermütige Mörder, riß die rosa Watte meiner Vorstellungskraft in Fetzen und zog mich hinein in die Korridore seines gesund denkenden Wahnsinns“, heißt es in Babels weltberühmtem Erzählungsband „Die Reiterarmee“. Folgen wir Babel in diese Korridore.

Babel, geboren 1894 in Odessa als Sohn eines jüdischen Händlers, war 1915 in Petersburg aufgetaucht, wo ihn ein Jahr später Maxim Gorki unter seine schützenden Fittiche nahm. Gorki empfahl Babel, sich in verschiedenen Berufen umzutun und noch etwas Lebenserfahrung zu sammeln, bevor er Dichter werde. Der Schriftsteller Viktor Schklowski schreibt in seinen Erinnerungen: „Eine Zeitlang war Babel Soldat, diente [als Dolmetscher] bei der Tscheka, im Narkompros [Volkskommissariat für Aufklärung]. Ging auf Lebensmittelbeschaffungs-Expeditionen im Jahre '18, glaube ich, fuhr auf Lastkähnen auf der Wolga – diese Lastkähne wurden damals beschossen. Auf ihnen wurden Vorlesungen gehalten.“

1920 nahm Babel als Korrespondent der Armeezeitschrift Roter Kavallerist während des russisch-polnischen Krieges am Feldzug von General Budjonnys 1. Reiterarmee teil. Das heißt, er ritt mit, denn die Redakteure waren Teil der Armee, lebten im selben Dreck wie die Kosaken und wurden eingeteilt „zu jedem Vergnügen, das vorderste ausgenommen“. Seinem Auftrag, „Tag für Tag eine kampfeslustige Zeitung [zu] füllen mit Tapferkeit und derbem Humor“ kam Babel brav nach: „In unsere heroische, blutige, uns betrübliche Liste muß ein weiterer Name eingetragen werden – der 6. Division unvergeßlich – der Name des Kommandeurs des 34. Kav.-Regimentes Konstantin Trunow.“

Die Erzählung „Schwadronskommandeur Trunow“, die Babel 1925 in der Zeitschrift Krasnaja now veröffentlichte, zeigte allerdings eine ganz andere Seite dieses heroischen Kommandeurs. Die 6. Division hatte im Morgengrauen 10 polnische Soldaten gefangengenommen, alle in Unterwäsche. Die Polen versuchten mit diesem Trick zu verhindern, daß man an den Uniformen die Offiziere von den Soldaten unterscheiden konnte. Trunow kannte da allerdings ebenfalls einen Trick: „,Eure Offiziere sind gemeines Pack‘, sagte der Schwadronskommandeur, ,eure Offiziere haben ihre Klamotten hier hingeworfen ... Aber wem sie passen, mit dem ist Sense, ich mach' jetzt eine Anprobe ...‘ Und sofort wählte der Schwadronskommandant aus dem Haufen Lumpen eine Mütze mit Kordel und stülpte sie dem Alten über. ,Sitzt‘, murmelte Trunow, näher auf ihn zutretend, und sang beinahe, ,sitzt ...‘ und stieß dem Gefangenen den Säbel in die Kehle. Der Alte fiel um, zuckte mit den Beinen, und aus seinem Hals ergoß sich ein schaumiger korallroter Bach.“

Seine ersten Erzählungen über die Reiterarmee hatte Babel bereits 1923 veröffentlicht und damit mehr Wirbel über sein Haupt gebracht, als es in diesen Zeiten dem Sohn eines kleinen jüdischen Händlers zuträglich war. Wie konnte er es wagen, der Roten Armee das Abschlachten von Gefangenen, Plünderungen und die Syphilis anzuhängen? Wie konnte er behaupten, die Russen seien verlaust, verzweifelt und dem Suff ergeben? Wie konnte er so en passant darauf hinweisen, daß der Krieg gegen Polen verloren war? Mit wem legte er sich da an? Zwei Namen: Budjonny und Stalin.

Niemand weiß, wie Stalin auf Babels Erzählungen reagierte, aber die Erinnerung an den verlorenen Krieg und die Beschreibung des opferreichen Rückzugs muß ihn fuchsig gemacht haben. Stalin war 1920 Kriegskommissar und damit ranghöchster Funktionär an der Südwestfront, an der auch Budjonny operierte. Im Norden der Westfront hatte General Tuchaschewski den Angriff der Polen zurückgeschlagen, und im August 1920 stand er mit seinen Truppen kurz vor Warschau. Die polnische Niederlage schien unabwendbar. Budjonny hatte am 6. August den Befehl bekommen, die Reiterarmee mit Tuchaschewskis Truppen zu vereinigen, aber Budjonny und Stalin wollten erst noch einige persönliche Lorbeeren einfahren und das bereits im 1. Weltkrieg heftig umkämpfte Lemberg einnehmen. Als Tuchaschewski zehn Tage später von den Polen vernichtend geschlagen wurde, trödelte Budjonnys 1. Reiterarmee immer noch fernab von der Hauptfront durch Galizien. Stalin wurde daraufhin seines Postens enthoben. Er hat es überlebt, doch als Babel seine Erzählungen veröffentlichte, war Lenin gerade gestorben und der heißeste Anwärter auf die Thronfolge hieß 1924 Leo Trotzki.

Semjon Michailowitsch Budjonny, ehemaliger Wachtmeister, Begründer der sowjetischen Kavallerie, General und glorreicher Held der Sowjetarmee, Analphabet und enger Vertrauter Stalins, hatte während seines Feldzugs in Galizien derartig gewütet, daß die politischen Emissäre mit ihren Meldungen über Massenmorde, Plünderungen und Pogrome kaum mehr nachkamen. Im Oktober 1920 ließ die politische Führung „Mörder, Pogromisten, Provokateure und deren Helfershelfer“ der Reiterarmee verhaften und vor ein Revolutionstribunal stellen. Über 140 Mann wurden erschossen. Budjonny überlebte in Stalins Windschatten, aber man kann verstehen, daß er die Sache nicht vier Jahre später erneut hochgekocht sehen wollte. Wer konnte schon so genau wissen, ob Stalin das Rennen machen würde? Budjonny ließ 1924 unter seinem Namen in der Zeitschrift Oktjabr eine wütende Attacke gegen Babel veröffentlichen: „... Gefallen dem Genossen Woronski [Chefredakteur von Krasnaja now] diese stinkigen weibisch-babelschen Pikanterien so sehr, daß er in einer so verantwortlichen Zeitschrift gestattet, unverantwortliche Lügen zu verbreiten; ganz zu schweigen davon, daß dem Genossen Woronski die Namen derer wohl bekannt sind, die der degenerierte Literat Babel mit dem künstlerischen Speichel des Klassenhasses begeifert ...“

Und was tat Babel? Er überarbeitete seine Erzählungen noch einmal und faßte 34 Kapitel zu einem Buch zusammen, das 1926 unter dem Titel „Die Reiterarmee“ veröffentlicht wurde. Über dieses Buch wurde schon so viel geschrieben, daß sich eine weitere Hymne erübrigt. Es ist ein schreckliches Buch. Babel schlägt den Leser von einem Seelenzustand in den nächsten, bis er nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. War man gerade noch bereit, einen Kosaken wegen seiner Bestialität höchstpersönlich in Stücke zu reißen, blickt man im nächsten Augenblick mit verliebten Augen auf ihn und fragt sich, ob man ihn nicht besser heiraten sollte. Alles wegen ein paar purpurner Reithosen, eines himbeerroten Mützchens, „schräg aufs Ohr gedrückt“, und langen Beinen „wie Mädchen, bis zu den Schultern in glänzende Reitstiefel gezwängt“. Gerade hat der Leser festgestellt, daß ihn der Dreck bei einer jüdischen Familie, die „Fetzen von Damenpelz, menschlichem Kot und Scherben“ auf dem Fußboden, abstoßen und daß ihm das Schicksal dieser Leute, einer Frau und zwei rothaariger Männer, die beim Aufräumen „wortlos umherhüpfen, wie Affen, wie Japaner im Zirkus“, gehörig egal ist, da entdeckt der Erzähler eine Leiche mit herausgerissener Kehle auf dem Fußboden, und die Frau sagt Worte, daß man eine ganze Nacht lang über sie weinen möchte: „In diesem Zimmer ist er verschieden und hat dabei an mich gedacht. Und jetzt will ich wissen, ich will wissen, wo ihr auf der ganzen Welt noch einen solchen Vater findet, wie meinen Vater.“ Babel schreibt mit der verwirrten Zärtlichkeit eines Liebhabers. Er singt über die Warzen auf der Nase der Geliebten, jedes abstoßende Detail genau beschreibend, und doch glaubt man das Hohe Lied Salomos zu hören.

Die „Reiterarmee“ machte Babel so berühmt, daß 1935 André Malraux bei Stalin anfragen ließ, warum Babel nicht zur sowjetischen Delegation gehöre, die zu dem Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur und des Friedens nach Paris gereist kam. Peter Urban hat das Buch jetzt neu übersetzt und sich dabei an den Text der „unzensierten“ Erstausgabe gehalten (2).

Nach der Veröffentlichung der „Reiterarmee“ vergrub Babel seine Manuskripte in einer großen Truhe und wurde, wie er 1934 erklärte, „Meister einer neuen literarischen Gattung“: der Literatur des Schweigens. Es sollte ihm nichts nützen. Babel erhielt einen Regierungsauftrag. Er sollte in die Ukraine reisen und die Folgen der Kollektivierung beobachten. Babel reiste und schwieg. 1936 begannen in Moskau die Schauprozesse. Im gleichen Jahr beschwerte sich die Literaturnaja gazeta öffentlich, daß Babel seit Jahren kein Buch mehr geschrieben habe. Und so kam es, daß drei Jahre später Babel einem Untersuchungsbeamten in der Lubjanka erklärte, er sei verhaftet worden, weil er die Sowjetunion durch Schweigen sabotiert habe.

Die Beamten fanden dieses Geständnis unbefriedigend – aber der Gefangene besserte sich zusehends. Am dritten Tag des Verhörs hatte Babel gestanden, daß er Trotzkist sei, als Spion den französischen Schriftsteller André Malraux mit „Nachrichten über den Zustand der Luftflotte“ versorgt und Mitglied eines Verschwörernestes um den ehemaligen Chef des NKWD, Jeschow, gewesen sei. Nebenbei denunzierte er noch eine Reihe von Kollegen. Und er erklärte: „Die ,Reiterarmee‘ diente mir als Vorwand, meine schreckliche Stimmung auszuleben, die nichts mit den Ereignissen in der UdSSR zu tun hatte. Darum die betonten Beschreibungen der Grausamkeit und der Absurditäten des Bürgerkriegs, die künstliche Einführung erotischer Elemente, eine Abfolge greller und schockierender Episoden ...“

Ein kräftiges Licht auf den Sinneswandel Babels wirft ein Brief an Molotow, der sich im Dossier des Theaterregisseurs Wsewolod Meyerhold fand. Meyerhold war zur selben Zeit wie Babel in der Lubjanka und ebenfalls von Schwartzmann verhört worden: „Ich mußte mich bäuchlings auf die Erde legen, und man schlug mir die Hacken und den Rücken mit einem Gummiknüppel. Man setzte mich auch auf einen Stuhl, um meine Beine mit dem gleichen Knüppel zu schlagen. An den folgenden Tagen, als meine Schenkel und Waden die Male riesiger innerer Blutungen aufwiesen, schlug man mich von neuem auf die blau- gelb-roten Blutergüsse ... Hinzu kam die ,psychische Bearbeitung‘, und das alles erregte in mir eine so fürchterliche Angst, daß meine Persönlichkeit bis in die Wurzel entblößt war.“

Berija war zufrieden mit seinen Untersuchungsbeamten. Schwartzmanns und Rodos' Verhörprotokolle seien „wahre Kunstwerke“.

Am 10. Oktober 1939 widerrief Babel seine Aussagen und erklärte, „einige Personen verleumdet zu haben“. Dabei blieb er. Im Dezember schrieb er noch einmal an die Staatsanwaltschaft: „Von mir ist dem Schriftsteller I. Ehrenburg, T. Konowalow, M. Fejerowitsch, L. Tumerman, O. Brodskaja und der Journalistengruppe E. Krieger, E. Bermont, T. Tess antisowjetische Tätigkeit und antisowjetische Tendenz zugeschrieben worden. Das alles sind auf nichts gegründete Lügen. Diese Menschen kannte ich als ehrliche und ergebene sowjetische Bürger. Die Verleumdungen wurden durch mein kleinmütiges Verhalten bei der Untersuchung hervorgerufen.“

Am 26. Januar 1940 wird Babel in dem Gefängnis Butyrki wegen Spionage, Verschwörung und Vorbereitung von Terroranschlägen zum Tode verurteilt. Das Urteil ist endgültig und unverzüglich zu vollstrecken. Am nächsten Tag wird Babel in Butyrki erschossen.

1956, während des „Tauwetters“, steht der ehemalige Untersuchungsbeamte Rodos als Stalinscherge vor einem sowjetischen Gericht. Auf die Frage, was er von einem gewissen Babel wisse, antwortet Rodos: „Man hatte mir gesagt, daß er ein Schriftsteller war.“ „Haben Sie eine Zeile von ihm gelesen?“ „Nein, warum hätte ich das tun sollen?“

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