piwik no script img

Und die Karawane rollt weiter

Chiapucci ausgestiegen, Rominger auch – die Tour der Unmenschlichkeiten  ■ Vom Mont Ventoux Ole Richards

Der Weg von Montpellier nach Carpentras, den der Tour-Troß heute abfährt, könnte so gemütlich sein. Würde da nicht 40 Kilometer vor dem Ziel ein Felsen den Weg versperren, der scheinbar bis zum Himmel reicht. Würde dieser Berg zwischen Provence und Alpen nicht zu den berüchtigsten Anstiegen gehören, die man auf einem Fahrrad überhaupt überstehen kann: Mont Ventoux, der kahle, heiße Berg.

Obwohl ihn Henry Marseille bereits 1935 als Radfahrer hinaufkletterte, dauerte es noch 16 Jahre, bevor er im Tour-Programm berücksichtigt wurde. Der Franzose Apotre Lazarides, 1948 Vize- Weltmeister, gewann 1951 die erste Prämie auf dem „kahlen Berg“. 18 Kilometer müssen die Fahrer bis in die Höhe von 1912 Metern eine Steigung von acht Prozent überstehen. Einer überlebte diese Strapaze nicht.

Am 13. Juli 1967 näherte sich in der Spitzengruppe an der Seite der Favoriten Jimenez, Pingeon und Poulidor auch der Brite Tom Simpson dem Mont Ventoux. „The Major“: 1962 trug er bei der Tour als erster Engländer das gelbe Trikot, gewann 1964 den Rad-Klassiker Mailand – San Remo und wurde 1965 Profi-Weltmeister. Danach lief es schlecht für Tommy aus Doncaster, nur sieben Siege bei unbedeutenden Kriterien. Verbissen bereitete er sein Comeback vor.

Während alle Experten den 30jährigen Simpson bei der Tour 67 für zu alt hielten, war dessen sportlicher Leiter Taylor anderer Meinung. Nur so läßt sich folgendes erklären: Simpson stürzte vier Kilometer vor dem Gipfel total erschöpft, Taylor jedoch überredete ihn zum Weiterfahren. Im Zick- Zack-Kurs torkelte der Brite weiter, entwischte knapp einer Steinmauer, nahm von Zuschauern Wasserflaschen, in denen höchstwahrscheinlich Whisky war. An der höchsten Stelle brach Simpson nach einem Kreislaufkollaps zusammen. Mit Hubschraubern ins Hospital von Avignon geflogen, konnten die Ärzte dort nur noch den Tod feststellen.

In Simpsons Trikottaschen fand man drei Tuben des Aufputschmittels Onedrine, in seinem Gepäck im Hotel weitere Dopingcocktails. Medikamente, Hitze und Alkohol hatten einen Radsportler getötet. Die Karawane rollte unbelehrbar weiter: Nur 18 Tage nach Simpsons Beisetzung in Harworth fiel bei der spanischen Meisterschaft Valentin Uriona nach einer Überdosis Amphetamine tot vom Rad ...

Wenn heute nachmittag das Feld der 159 Profis den Mont Ventoux besteigt, ist mit kollabierenden, tot zusammenbrechenden Sportlern kaum zu rechnen. Gesünder aber ist der Radsport inzwischen nicht geworden. Die Schwächeanfälle von Claudio Chiappucci (12. Etappe) und Tony Rominger (13. Etappe) stellen wieder die Frage nach dem Maß des für viele härtesten sportlichen Wettkampfs der Gegenwart. Im April 1994 berieten im holländischen Heerlen vor dem Amstel Gold Race Sportmediziner, ob dreiwöchige Rundfahrten wie der Giro d'Italia oder die Tour de France überhaupt ohne „medizinische Nachhilfe“ zu überstehen seien. Der Kölner Doping-Experte Manfred Donike bezweifelt dies. Aber jegliche Vorschläge, die Streckenführungen zu vereinfachen, wurden von den Veranstaltern wie Jean-Marie Leblanc, dem Direktor der Tour de France, als Angriff auf die Attraktivität der Tour abgelehnt.

Der Kampf gegen den Dopingmißbrauch im Profi-Radsport nimmt daher mitunter peinliche Züge an. Als der Italiener Alberto Volpi voriges Jahr nach dem Weltcup-Rennen „Wincanton Classics“ in Leeds erwischt wurde, disqualifizierte man ihn zunächst, um ihn später wegen „Formfehler“ wieder auf Platz eins zu setzen. Als der Franzose Emmanuel Magnien bei einer kleinen Rundfahrt im Juni ertappt wurde, setzte man die Strafe kurzerhand aus, weil doch die Tour vor der Tür stand.

Die Modedroge der Radprofis heißt EPO (Erythropoetin), ein Hormon zur Muskelbildung, das günstigerweise nur durch Bluttests nachweisbar ist. Der italienische Wunderarzt Dr. Michele Ferrari gestand in L'Equipe indirekt die EPO-Naschereien seiner Patienten, indem er bagatellisierte: „Zehn Liter Orangensaft sind doch auch nicht gesund.“ Nach diesem Interview wurde Ferrari vom Gewiss-Balan-Team entlassen, betreute jedoch zum Beispiel Jewgeni Berzin weiter. Der junge Russe gewann im Juni sensationell den Giro d'Italia. Auch in Lillehammer hat „Meistermacher“ Ferrari bereits Manuela di Centa und die Männer-Langlauf-Staffel zu Olympiasiegen gefüttert. Sein Musterpatient war bisher allerdings der Schweizer Tony Rominger, der jedes Detail seiner Tour-Vorbereitung mit Dr. Ferrari abstimmte.

Claudio „El diabolo“ Chiappucci, immerhin Tour-Zweiter 1990 und 1992, stieg mit den gleichen Symptomen aus wie Rominger. Ob dieser „Virus“ auf die Modedroge EPO zurückzuführen ist, muß, solange herkömmliche Dopingproben genommen werden, ein Rätsel bleiben. Auf dem Mont Ventoux erinnert nur ein Gedenkstein an den Doping-Toten Tom Simpson. Die Karawane zieht weiter.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen