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Den Denkzettel für Kinkel erhielt Santer

■ Knappe Mehrheit für Delors-Nachfolger im Europaparlament

Brüssel (taz) – Die Luxemburger müssen sich doch einen neuen Präsidenten suchen. Der luxemburgische Premierminister Jacques Santer wurde gestern im Europäischen Parlament in Straßburg nach einer mitreißenden Abstimmungsdebatte knapp mit 260 zu 238 Stimmen als künftiger Präsident der Europäischen Kommission bestätigt. Das Ergebnis kam überraschend, weil vor der Sitzung eine Reihe von Fraktionen, darunter auch als stärkste die sozialistische, sich gegen Santer ausgesprochen hatte. Obwohl diese Abstimmung für den Ministerrat nicht bindend ist, war doch klar, daß Santer bei einer Ablehnung nur noch der Rückzug geblieben wäre. Die eigentliche Bestätigung des christsozialen Santer muß das Europaparlament im Dezember geben, wenn über die gesamte Kommission, also auch über die 18 von den nationalen Regierungen benannten Kommissare, abgestimmt wird. Wenn Volksabstimmungen über den EU- Beitritt in Schweden, Finnland und Norwegen positiv ausfallen, werden es 21 Kommissare sein.

In der Debatte dominierten anfangs die Zweifel an den Fähigkeiten Santers, die Nachfolge des im Januar ausscheidenden Kommissionspräsidenten Jacques Delors anzutreten. Zuletzt stand dann nur noch die Kritik am Verfahren im Mittelpunkt der Diskussion. Eine große Mehrheit der Sozialisten und etwa die Hälfte der kleineren Fraktionen einschließlich der Grünen wehrten sich gegen einen Kompromißkandidaten, der „das Produkt des Vetos einer britischen Regierung ist, der die Wähler in Scharen davonlaufen“, wie die Grünen-Abgeordnete Claudia Roth sagte. Santer war von Kohl im Ministerrat durchgedrückt worden, nachdem der belgische Ministerpräsident Jean-Luc Dehaene am Einspruch des britischen Regierungschefs John Major gescheitert war.

Die Fraktionschefin der Sozialisten, Pauline Green, brachte die Stimmung der Abgeordneten auf den Punkt: Sie wischte alle Zweifel an Santers Qualifikation als unbegründet zur Seite und ging auf Bundesaußenminister Kinkel los. Kinkel hatte in seinem Plädoyer als amtierender Präsident des Ministerrates das Parlament davor gewarnt, mit einer Ablehnung Jacques Santers eine Krise der Europäischen Union auszulösen. So nebenbei hatte Kinkel auf die geringe Beteiligung bei den Europawahlen hingewiesen, was wohl Zweifel an der Legitimität des Hauses wecken sollte. Alois Berger Seite 10

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